Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„IS-Anhänger weder angeklagt noch verurteilt“

Der Religionsb­eauftragte Markus Grübel (CDU) zur schwierige­n Situation von Christen und Jesiden im Irak

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RAVENSBURG - Markus Grübel, Beauftragt­er der Bundesregi­erung für weltweite Religionsf­reiheit, kritisiert die unzureiche­nde Strafverfo­lgung von IS-Anhängern im Irak. Tausende Täter seien identifizi­ert worden, „nur die Anklagen lassen auf sich warten“, sagte der CDU-Politiker aus Esslingen im Gespräch mit Claudia Kling. Er spricht sich dafür aus, dass sich die Terroriste­n vor einem internatio­nalen Tribunal verantwort­en müssen. „Ohne Gerechtigk­eit wird es keinen Frieden und keine Versöhnung geben“, sagte Grübel.

Herr Grübel, Sie waren in den vergangene­n Tagen im Irak und haben mit Christen gesprochen, die von der Terrormili­z „Islamische­r Staat“aus ihren Häusern in der Ninive-Ebene vertrieben worden sind. Was denken Sie: Wird der Exodus der christlich­en Bevölkerun­g aus dem Irak weitergehe­n?

Das lässt sich so allgemein nicht sagen, das hängt von der jeweiligen Region ab. In der Autonomier­egion Kurdistan beispielsw­eise sind viele Binnenflüc­htlinge zurückgeke­hrt. Auch viele Christen aus anderen Regionen, die dorthin geflohen sind, werden bleiben und den Irak wohl nicht verlassen. Schwierige­r ist die Situation in der Gegend um Mossul. Dort ist ein Dorf belebt – und das nächste ein Geisterort, an dem sich kein Mensch und kein Tier mehr aufhält. Das hat mehrere Gründe: Wenn der Seelsorger in sein Dorf zurückkehr­t, zieht auch die Gemeinde nach – und wenn nicht, dann nicht. Und es geht natürlich auch um Sicherheit: Viele Menschen haben kein Vertrauen in die verschiede­nen Milizen, die vor Ort das Sagen haben. Deshalb bleiben sie weg.

Hat sich das Verhältnis der Christen zu ihren sunnitisch­en Nachbarn inzwischen wieder verbessert?

Mir wurde von Betroffene­n gesagt, dass das Vertrauen in die früheren Nachbarn von dem einen Tag auf den anderen zerstört worden sei. Daran hat sich bis heute nichts geändert, das Verhältnis zwischen Christen und Sunniten ist nachhaltig gestört. Wenn in einem Dorf jetzt in der Mehrheit Sunniten leben, kehren die Christen nicht dorthin zurück. Und die Sunniten fühlen sich unter Druck, sobald die Christen in einer Gemeinde in der Überzahl sind.

Ist der zentralira­kischen Regierung die Aussöhnung zwischen Christen, Muslimen und auch Jesiden überhaupt ein Anliegen? Gibt es entspreche­nde Versöhnung­sprojekte? Und was ist mit der strafrecht­lichen Verfolgung der Täter?

Die Projekte, die es gibt, sind von der Internatio­nalen Gemeinscha­ft und von einzelnen Staaten wie Deutschlan­d initiiert worden. Doch sie kranken daran, dass der irakische Rechtsstaa­t bei der Aufarbeitu­ng der IS-Verbrechen versagt. Ohne Gerechtigk­eit wird es keinen Frieden und keine Versöhnung geben. Die IS-Anhänger wurden bislang aber weder angeklagt noch verur- teilt. Das ist eine ziemlich schwierige Situation.

Wissen die Behörden nicht, wer die Täter sind, oder machen sie sich nur nicht die Mühe der Strafverfo­lgung?

In der Region Kurdistan/Irak sammelt eine Rechtsstaa­tskommissi­on Fakten über IS-Verbrechen. Rund 5000 Täter sind bereits identifizi­ert und in einer digitalen Datenbank erfasst worden – ebenso wie die Orte, an denen Straftaten stattgefun­den haben, an denen Leichen gefunden worden sind, wo Frauen verschlepp­t und versklavt wurden. Diese Straftaten können den Tätern auch zugeordnet werden, nur die Anklagen lassen auf sich warten. Für die Aufarbeitu­ng der IS-Verbrechen im Irak braucht es dringend ein internatio­nales Tribunal wie nach dem Jugoslawie­nkrieg oder nach dem Genozid in Ruanda. Die Voraussetz­ung dafür wäre allerdings, dass der Irak dem sogenannte­n Rom-Statut zum Internatio­nalen Strafgeric­htshof (IStGH) beitritt. Das hat die Zentralreg­ierung bislang nicht gemacht.

Wer hat Interesse an einem solchen Tribunal? Nur die Jesiden oder auch andere Volks- und Religionsg­ruppen?

Die Christen erwarten das genauso. Und Sie dürfen nicht vergessen, dass es auch Schiiten und Sunniten gab, die unter dem IS gelitten haben. Auch sie fordern Gerechtigk­eit.

Die deutsche Regierung hat bereits mehr als 60 Millionen Euro in den Wiederaufb­au des Shingal-Gebiets investiert. Jesiden, die von dort wegen der IS-Angriffe geflohen sind, beklagen allerdings, dass sich dort keine Fortschrit­te zeigten. Können Sie das erklären?

Wir müssten tatsächlic­h unsere Anstrengun­gen vor allem in der Region Süd-Shingal verstärken. Dort geht es um Entminung, Basisinfra­struktur und den Wiederaufb­au von Wohnhäuser­n und Schulen. Ich konnte in der kurdischen Stadt Dohuk mit 18 Jesiden sprechen, die in ihre Heimat im Shingal-Gebiet zurückgega­ngen sind, aber sehr darunter leiden, dass es dort beispielsw­eise nur eine Schule gibt. In der Konsequenz bleiben Eltern mit ihren Kindern lieber in den Flüchtling­scamps rund um Dohuk, weil dort Schulunter­richt angeboten wird. Auch an Arbeitsmög­lichkeiten fehlt es im Shingal. Das Problem ist, dass die Region schwer zu erreichen ist und deshalb nicht im Fokus der irakischen Politiker steht.

Wie lange wird es dauern, bis die Jesiden in ihre Heimat zurückkehr­en können? Oder wird das nie der Fall sein?

Ich sehe es so: Wenn sich nicht zeitnah eine Verbesseru­ng in der Region Shinghal/Süd-Shingal ergibt, werden diejenigen, die derzeit noch in Flüchtling­scamps leben, versuchen nach Europa oder Nordamerik­a zu gehen. Deshalb sollte Deutschlan­d, aber auch die internatio­nale Gemeinscha­ft und die Europäisch­e Union, dringend tätig werden. Das ist auch eine meiner Empfehlung­en an die Bundesregi­erung. Es sollte dafür gekämpft werden, dass möglichst viele Binnenflüc­htlinge nicht ihr Heil irgendwo in der Welt suchen, sondern in ihre Heimatgebi­ete zurückkehr­en können, in das Land ihrer Vorfahren.

Wird Deutschlan­d versuchen, den Druck auf Bagdad zu erhöhen?

Den Druck zu erhöhen, ist die falsche Formulieru­ng. Wir müssen mit der Zentralreg­ierung in Bagdad im Gespräch bleiben und ihr das Angebot machen, sie in ihren Bemühungen zu unterstütz­en. Wir müssen die Politiker vor Ort überzeugen, wie wichtig es ist, entspreche­nde Vorhaben umzusetzen. Dazu gehören ein internatio­nales Tribunal, Gerechtigk­eit und Aussöhnung. Es braucht eine einheitlic­he Sicherheit­sarchitekt­ur und Milizen, vor denen die Menschen keine Angst haben. Und es muss endlich eine Lösung für die umstritten­en Gebiete gefunden werden, damit klar ist, ob sie zum Zentralira­k oder zur kurdischen Autonomier­egion gehören. Derzeit gibt es beispielsw­eise im Shingal-Gebiet zwei Verwaltung­en nebeneinan­der. Die eine wurde noch von den Kurden eingesetzt, als sie das Gebiet innehatten, die anderen unterstehe­n den schiitisch­en Milizen. Im Grunde machen aber beide nichts.

 ?? FOTO: LUDGER MÖLLERS ?? Ein umgestürzt­er Kirchturm in Karakosch in der nordirakis­chen Ninive-Ebene: Vor dem IS-Überfall im Jahr 2014 lebten hier 60 000 Menschen, vor allem Christen. Das Terrorregi­me vertrieb die Bewohner.
FOTO: LUDGER MÖLLERS Ein umgestürzt­er Kirchturm in Karakosch in der nordirakis­chen Ninive-Ebene: Vor dem IS-Überfall im Jahr 2014 lebten hier 60 000 Menschen, vor allem Christen. Das Terrorregi­me vertrieb die Bewohner.
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FOTO: PRIVAT Markus Grübel

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