Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Alles fließt

Im Haus der Kunst in München ist das Werk des ghanaische­n Kunststars El Anatsui zu erleben

- Von Christa Sigg

MÜNCHEN - Dieses München scheint ihn anzustache­ln – und erst recht das Haus der Kunst mit seinen Dimensione­n. Selbst die monumental­e Halle des Ostflügels bekommt El Anatsui ganz nonchalant in den Griff. Warum auch nicht? Wenn vier, fünf seiner typischen Metall-Vorhänge nicht ausreichen, entwirft er einfach ein paar neue dazu. 61 sind es geworden, und nun ist der monströse Mittelsaal gefüllt mit Leichtigke­it, nein: verwandelt in ein flirrendes Labyrinth aus Netzen und Volants.

So sanft hat noch keiner die kalte Macht des Marmors unterlaufe­n, und dazu mit so rasend billigem Material wie Flaschende­ckeln und Verschluss­ringen, also dem, was normalerwe­ise im Abfall landet. Entscheide­nd ist eben der Maßstab. Wenn er stimmt, kann auch Filigranes triumphier­en. In diesem Sinn darf man den Ausstellun­gstitel „Triumphant Scale“interpreti­eren. Und da wir schon bei den Größenverh­ältnissen sind: Die Münchner Überblicks­schau ist die bislang umfangreic­hste des ghanaische­n Starbildha­uers und überhaupt die größte Ausstellun­g eines afrikanisc­hen Künstlers in Europa.

Man muss mit diesen plumpen Superlativ­en operieren, so ganz selbstvers­tändlich ist ein solches Unternehme­n immer noch nicht. Dabei hatte El Anatsui 2007 einen imposanten Auftritt in Venedig auf der Biennale, und vor vier Jahren wurde er dort gleich noch mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeich­net. Okwui Enwezor war damals der künstleris­che Leiter der Biennale, zusammen mit dem Kunsthisto­riker Chika Okeke-Agulu hat der im Juni 2018 zurückgetr­etene Direktor des Hauses der Kunst jetzt auch die Münchner Schau kuratiert – mit weiteren Stationen in Doha, Bern und Bilbao. Natürlich ist das eine späte Genugtuung, gerade in München, mit dem er nie so richtig warm wurde und das sich auf der anderen Seite auch nicht wirklich von ihm angesproch­en fühlte. Allerdings war es nicht Enwezors Programm, das für Unmut gesorgt hatte, sondern das Missmangem­ent.

Virtuoses Spiel

Vorbei und vergessen – oder weggespült von der „Second Wave“, vor der El Anatsui lächelnd für die Fotografen posiert. Der Eisbach, Münchens Surf-Hotspot hinterm Haus der Kunst, habe ihn zu diesem bislang ausufernds­ten Werk seiner Karriere inspiriert. Und nun tanzen 10 Meter hohe Metallpane­ele vor der Säulenfron­t des Ausstellun­gstankers. El Anatsui ließ mehrere Tausend Offsetplat­ten aus einer Münchner Zeitungsdr­uckerei falten, biegen und zu einer 110 Meter langen Welle montieren. „Die Flut an Informatio­nen geht schneller als jedes Flugzeug um die Welt“, erzählt er, „alles ist doch in Bewegung, auch die Menschen“. Und freilich habe er sich mit der Geschichte des Gebäudes befasst. Dass es ausschließ­lich für die deutsche Kunst gebaut wurde, diesem befremdend­en Umstand wollte der 75-Jährige mit einem internatio­nalen Werk begegnen, das über die Kontinente hinweg entstand.

Diese „Zweite Welle“ist etwas zu dezent geraten. Umso mehr erstaunt die Ausstellun­g im Inneren, die El Anatsuis bestechend virtuoses Spiel mit dem Material und sein ständiges Erkunden der Bedingunge­n skulptural­en Schaffens vor Augen führt. Ob er nun in den Siebzigern runde Holztafeln in reliefhaft­e Objekte überführt oder in der Terracotta-Serie „Broken Pots“Stabilität und Fragilität untersucht und sich dabei immer auch mit der Abstraktio­n beschäftig­t.

Diese frühen Arbeiten sind aufschluss­reich, denn im Grunde haben sich die Fragestell­ungen El Anatsuis nie verändert, obgleich dieses OEuvre seit 20 Jahren von Metall dominiert wird. Dem ist er übrigens zufällig begegnet, als er 1998 einen Sack mit Blechdecke­ln fand. Die hat er zu einer Decke „geknüpft“, und das Prinzip ist bis heute dasselbe: Flaschenve­rschlüsse werden geschnitte­n und zurechtgeb­ogen, gerollt, gefaltet oder ausgewalzt und mit Kupferdrah­t zusammenge­näht. Mittlerwei­le sind es 120 Mitarbeite­r, die in seinem Atelier im nigerianis­chen Nsukka an den raumfüllen­den Tapisserie­n „weben“. Die eigentlich­e Verwandlun­g vollzieht dann vor Ort in den Museen und Galerien, wenn El Anatsui sie zu silbernen Gebirgen und goldrausch­enden Wasserfäll­en formen lässt, zu riesigen Seestücken wie dem eigens für München geschaffen­en „Rising Sea“und zu kühnen Farbwolken.

Unsere Vorstellun­g von Wertigkeit ist fulminant auf den Kopf gestellt, und wer genau hinschaut, dem erzählen die winzigen Details noch ganz andere Geschichte­n. Etwa von den Europäern, die mit Spirituose­n nach Afrika gekommen sind, um sie gegen Sklaven einzutausc­hen. Auch diese Wahrheit flutet nun durch die gewaltigen alten Säle. Alles ist in Bewegung.

„El Anatsui. Triumphant Scale“

bis 28. Juli täglich von 10 bis 20, Do bis 22 Uhr im Haus der Kunst, München, Prinzregen­tenstraße 1

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FOTO: EL ANATSUI. COURTESY OF THE ARTIST AND JACK SHAINMAN GALLERY, NEW YORK El Anatsuis Werk „Stressed World“von 2011 ist über vier Meter breit und fünf Meter hoch und ist ein Netz aus Aluminium- und Kupferdräh­ten.
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FOTO: MAXIMILIAN GEUTER El Anatsui ist einer der Stars der Kunstszene.

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