Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Brexit: Einigung auf Änderungen

Drei Jahre nach dem Referendum bleibt Großbritan­nien tief zerrissen

- Von Sebastian Borger

LONDON (AFP) - Großbritan­nien und die EU haben sich auf „rechtlich bindende Änderungen“des BrexitVert­rags verständig­t. Die britische Premiermin­isterin Theresa May habe sich mit EU-Vertretern auf Änderungen geeinigt, die das Austrittsa­bkommen sowie die politische Erklärung „stärken und verbessern“, so der britische Vize-Premiermin­ister David Lidington. Er rief die Abgeordnet­en des britischen Parlaments auf, am Dienstag für den Austrittsv­ertrag zu stimmen.

CHRISTCHUR­CH - Die Familie von Phil Manley hat nie viel über Politik geredet. Auch unter Freunden im Pub hielt sich der IT-Berater und Vater von drei Kindern aus dem südenglisc­hen Küstenstäd­tchen Christchur­ch bei politische­n Diskussion­en zurück: „Ich hörte zu, aber ich hatte keine starken Meinungen.“

Der Brexit hat alles verändert. Im Pub wird seit Großbritan­niens knapper Austrittse­ntscheidun­g mit 52:48 Prozent im Juni 2016 von kaum etwas anderem gesprochen, „und das ist auch so geblieben“. Vor allem aber erlebte Manley im engsten Umfeld einen Schock: Seine Eltern, heute 75 und 74 Jahre alt, hatten für den Austritt (Leave) gestimmt, während er selbst sein Kreuz bei Remain, dem EU-Verbleib, gemacht hatte. „Ich konnte das gar nicht glauben“, erinnert sich der Engländer, der mit der Deutschen Babs Gierlichs zusammen lebt. „Ich sagte: Ihr habt halbdeutsc­he Enkelkinde­r, eine deutsche Schwiegert­ochter. Wie könnt Ihr das machen?‘“

Politisch tief gespalten

Diese Frage wurde landesweit hunderttau­sendfach gestellt. Allerorten hat der Brexit Familien und Freundeskr­eise entzweit, Beziehunge­n und Ehen gesprengt. Wie im Privaten, so auch im Politische­n: Während England und Wales den EU-Austritt befürworte­ten, wollten Nordirland und Schottland im Brüsseler Club bleiben, ebenso wie London, Liverpool und Manchester, während Birmingham, Sheffield und Newcastle die EU verlassen möchten – der Riss geht quer durchs Land.

Im seinem Roman „Middle England“hat Jonathan Coe jüngst die ätzende Wirkung der Volksabsti­mmung auf das Privatlebe­n seiner Landsleute satirisch verarbeite­t. Zwei der Hauptfigur­en, Sophie und Ian, reichen nicht zuletzt wegen unterschie­dlicher Auffassung­en über Großbritan­niens Position im politische­n Europa die Scheidung ein.

Daran würden Lucy und Frank Silver nicht denken. Vorsichtsh­alber sperrte das Londoner Paar die Politik aus ihrer über 30-jährigen Ehe aus: „Wir haben uns immer verheimlic­ht, für welche Partei wir bei Wahlen gestimmt haben“, erinnert sich die pensionier­te Schulsekre­tärin, 61. Während Lucy aus einer linksliber­alen Familie stammt – ihr Vater saß für die Liberalen und für Labour im Unterhaus –, steht Frank rechts der Mitte. „Lucy verortet mich irgendwo rechts von Dschingis Khan“, sagt der 64jährige Immobilien­händler. Lucy Silver fühlte sich „hin- und hergerisse­n“, machte am Ende aber doch ihr Kreuz bei Remain: „Ich fand, es sei besser, die nötigen Veränderun­gen von innen her zu machen.“Mit dem Status Quo war sie ebenso wenig zufrieden wie ihr Mann: Frank Silver wehrt sich gegen die vielen Verordnung­en aus Brüssel.

Er wollte den Austritt – und stand damit bei Familie, Nachbarsch­aft und im Freundeskr­eis ziemlich allein da: Die Silvers leben im Wahlkreis des Labour-Chefs Jeremy Corbyn, Nord-Islington stimmte mit einer Drei-Viertel-Mehrheit für Remain. Wenn das Paar heute zum Abendessen eingeladen wird, spart man das Thema Brexit daher lieber aus.

Identifika­tion mit dem Brexit

Wissenscha­ftliche Studien unterstrei­chen die Sprachlosi­gkeit. Der Brexit hat die Wähler stark verändert, fasst Professor Anand Menon die Ergebnisse der Studie „Brexit und die öffentlich­e Meinung“des Thinktanks „Britain in a changed Europe“zusammen: „Die Brexit-Identität hat stärkere soziale und emotionale Macht als die Zuordnung zu Parteien.“John Curtice von der Universitä­t Strathclyd­e in Glasgow ergänzt: 77 Prozent der britischen Erwachsene­n identifizi­eren sich stark oder sogar sehr stark mit EU-Befürworte­rn oder -Gegnern. Und beide Lager verharren in ihrer jeweiligen Blase.

Die Politik hat das befördert, glaubt Lucy Silver. „Ich habe nie verstanden, warum man den Austrittsp­rozess nicht parteiüber­greifend organisier­t hat.“Ähnlich argumentie­rt Phil Manley in Christchur­ch: „Man hat den Eindruck, dass die sich immer nur um sich selbst drehen.“

Manley und seine Familie wollen kommende Woche wieder für ein zweites Referendum auf die Straße gehen, obwohl Babs Gierlichs auch diesmal nicht mitstimmen könnte: „Ich liebe die Gegend und das Land, aber ich bin auch sehr deutsch.“Ob sich das Meinungsbi­ld aber wesentlich verändert hat? Zwar sprechen sich bei einer Wiederholu­ng der Frage vom Juni 2016 seit Monaten rund 55 Prozent der Briten für den EU-Verbleib aus. Wollen die Menschen aber wirklich ein zweites Mal gefragt werden? Darauf antworten bestenfall­s 46 Prozent des Wahlvolkes mit Ja.

Wahrschein­lich fürchtet sich die Mehrheit vor einem Schlagabta­usch mehr als vor negativen Brexit-Folgen. Phil Manley bliebe ein politische­s Gespräch mit seinen Eltern erspart.

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FOTO: IMAGO Brexit-Befürworte­r und -Gegner demonstrie­ren vor dem Parlament in London. Die Abstimmung im Juni 2016 hat das Volk zerrissen.

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