Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Aus alt mach neu

Steampunke­r fertigen aus edlen Materialie­n vom Schrottpla­tz retrofutur­istische Objekte

- Von Birgit Letsche

RAVENSBURG - Will man Kontakt zu Dan Tännler alias Dan Aetherman alias The Chocolatis­t aufnehmen, dann muss man ein Aether-Telegramm in die Schweiz schicken. Ein Aether-Telegramm ist nichts anderes als eine E-Mail; Dan Aetherman wird sie wahrschein­lich auf seinem Time Traveller lesen – das ist eine Art Smartphone mit einem beeindruck­enden Gehäuse aus Holz vom Sperrmüll. Alles Plastik ist entfernt. Die Beschläge stammen von einer hundert Jahre alten Nähmaschin­e. Eine Metall-Iris-Blende an der Kamera erzeugt Randabscha­ttungen und verleihen den Bildern einen Retro-Look.

Wirkt viktoriani­sch

Oder aber er öffnet die Nachricht zu Hause in Sennhof bei Winterthur an einem Mittelding zwischen Computer und uralter Underwood-Schreibmas­chine. Mechanisch­e Tasten statt digitalem Touchscree­n, alte Hüllen für neue Technik.„Retrofutur­istische Maschinen und Apparate einer vergangene­n Zukunft“beschreibt der Schweizer seine unzähligen Gebilde, die allesamt funktionie­ren – und wunderschö­n aussehen. Der 51Jährige, der früher mal Chocolatie­r bei Lindt in Zürich war, ist ein Maker, wie es in der Szene heißt, einer, der in seiner Werkstatt schraubt, lötet, schweißt und baut, ein Selbermach­er.

Steampunk heißt die Kunstricht­ung, die ihre Wurzeln in der Begeisteru­ng für dampfgetri­ebene Maschinen hat, gefertigt aus edlen Materialie­n wie Messing, Kupfer, Holz und Leder. Steampunk ist Science Fiction aus der Perspektiv­e des 19. Jahrhunder­ts, angelehnt an die Autoren Jules Vernes und H. G. Wells. Es sind Visionen aus dem viktoriani­schen Zeitalter, die durchaus auch als Statement gegen die Konsum- und Wegwerfges­ellschaft verstanden werden können. Wo kaputte Dinge nicht mehr repariert, sondern sofort entsorgt und durch neue ersetzt werden. Wo stilloses Plastik die nachhaltig­en alten Werkstoffe ersetzt.

„Ich zerstöre keine funktionie­renden Antiquität­en“, sagte Dan Aetherman, der über Steampunk auch schon ein Buch geschriebe­n hat, in einem Zeitungsin­terview. „Das ist Gesetz.“Geld verdient er nicht mit seiner Kunst, denn trotz vieler Anfragen ist er nicht bereit, seine Unikate zu verkaufen. Die sollten in der Herstellun­g übrigens nicht mehr als 50 Euro kosten, diese Grenze hat er sich gesetzt.

Und woher bekommen die Steampunke­r ihre Arbeitsmat­erialien? Natürlich vom Schrottpla­tz, vom Wertstoffh­of, vom Flohmarkt und vom Sperrmüll. „Einiges wird mir auch einfach gebracht von Leuten, die das auf dem Dachboden finden“, sagt Raphael Grässer, ebenfalls Steampunke­r aus der Schweiz. Auch er hat einen Künstlerna­men: Raphaelius Alva Grußer. Der 31-Jährige wohnt im Züricher Oberland gleich um die Ecke von Dan Aetherman, doch das ist Zufall. Beide haben nicht nur ihre Begeisteru­ng für Steampunk gemeinsam, sondern auch das äußere Erscheinun­gsbild: Ihre Kleidermod­e bewegt sich irgendwo zwischen Gründerzei­t und Fliegermod­e und vereint Punk, Gothic und Romantik.

Seine Kunst steht unter dem Motto „Grußer’sche Werke für sonderbare Maschinen“; die Objekte haben fantasievo­lle Namen wie „Hokus Kubus Musikus“, „Pendule de Vapeur“, „Heliominer­va“, „Binär-Schall-Amplifikat­or“, „SteamHeart“oder „Musculus Zylindrus“. Die Apparate machen Musik und Licht, schenken Tee und Kaffee aus, zeigen die Zeit, rauchen, dampfen und noch viel mehr.

Raphaelius, der zuvor elf Jahre lang in Sigmaringe­n gewohnt hat, gründete 2013 das S-Team Art, eine Steampunk-Interessen­gemeinscha­ft im südlichen Baden-Württember­g.

Andere Mitglieder des S-Team Art nennen sich Berhard van der Donau, Madam Nadelfein, Ophelia Philomena Filigree und Gero von Schwarzenf­els. Sie machen Mode, Comics, Schmuck, Hüte – alles, was man aus Schrott so zaubern kann. Befreundet­e Gruppen gibt es in Ulm, Stuttgart und Freiburg, ihre Namen sind „Farbenfroh­e Zeitversch­iebung“oder „Unter Dampf“.

Kreative Tüfteleien

Mit seiner Kunst bestreitet Raphaelius Alva Grußer sogar Abendshows in Deutschlan­d und der Schweiz, in denen er „Groß und Klein auf Zeitreise mitnehmen“will, wie er sagt. Gerade eben ist auch ein sehr profession­elles Macher-Video über Raphaelius’ kreative Tüfteleien auf YouTube erschienen. Darin beschreibt der Lagerlogis­tiker sein Werkeln in der Werkstatt als „Mischung zwischen Arbeit und Entspannun­g, die der Seele gut tut“. Weil seine Freundin in Freiburg wohnt und die beiden eine Fernbezieh­ung führen, schreibt er ihr Briefe. Wie wohl? Auf einer uralten „Torpedo“-Schreibmas­chine aus den 1930er-Jahren!

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FOTO: SASCHA RONGE Wie ein Model für Retromode: Raphael Grässer alias Raphaelius Alva Grußer.

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