Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Maas zweifelt am Aufschub

Brexit-Verschiebu­ng laut Außenminis­ter noch ungewiss

- Von Verena Schmitt-Roschmann, Silvia Kusidlo und Christoph Meyer

BERLIN (kg/gwb) - Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) hält es nicht für ausgemacht, dass die EUStaaten kommende Woche einem Aufschub des Brexit zustimmen. „Viele befinden sich noch in der Entscheidu­ngsphase. Die Diskussion ist noch nicht zu Ende“, sagte der SPDPolitik­er am Freitag der „Schwäbisch­en Zeitung“. Das britische Unterhaus hatte beschlosse­n, nicht wie geplant zum 29. März aus der EU austreten zu wollen. Um eine Verschiebu­ng möglich zu machen, müssen alle 27 Staaten den Vorschlag billigen. Darüber soll auf dem Gipfel am Donnerstag beraten werden.

Für die Bundesregi­erung signalisie­rte Maas Zustimmung: „Einen ungeregelt­en Brexit kann niemand wollen. Lieber noch eine Ehrenrunde mit einer kurzen Verlängeru­ng.“Die Verlängeru­ng ergebe aber „nur Sinn, wenn die Briten sagen, was ihr Plan ist. Es bedarf konkreter Aussagen aus London.“

LONDON/BRÜSSEL (dpa) - Am Anfang eine überstürzt­e Rettungsmi­ssion in Straßburg, wo die britische Premiermin­isterin Theresa May am Montag um allerletzt­e Zugeständn­isse der Europäisch­en Union feilschte. Am Ende in London der Wunsch nach Verschiebu­ng des Brexits. Was für eine Woche. Wer auf der Achterbahn der Ansagen und Widerworte, der Voten und Volten aus der Kurve getragen wurde, ist sicher nicht allein. Zwei Wochen vor dem ursprüngli­ch angekündig­ten EU-Austritt Großbritan­niens versinkt das historisch­e Projekt in einem beispiello­sen Durcheinan­der. Fünf Lehren lassen sich dennoch ziehen nach diesen bemerkensw­erten Tagen.

1. Wir wissen, was nicht kommt.

Das britische Unterhaus hat drei wichtige Entscheidu­ngen getroffen: Es stimmte gegen den von May mit viel Mühe und nächtliche­m Einsatz nachgebess­erten EU-Austrittsv­ertrag. Es stimmte aber auch gegen einen EU-Austritt ohne Vertrag. Und es beantragte folgericht­ig zuletzt eine Verschiebu­ng des vor zwei Jahren festgelegt­en Brexit-Termins 29. März. Die Entscheidu­ng über die Verlängeru­ng soll beim EU-Gipfel am Donnerstag fallen. Diplomaten in Brüssel halten es für wahrschein­lich, dass die übrigen 27 EU-Staaten den Aufschub billigen werden. Dann passiert am 29. März also: nichts. Wie lange Großbritan­nien noch Mitglied bliebe, ist offen.

2. Mays Mehrheit ist dahin.

Die schier unverwüstl­iche Regierungs­chefin geht schwer angeschlag­en aus dieser Woche. Nicht nur, dass Theresa May bei den unendliche­n Debatten im Unterhaus zeitweise vor Heiserkeit die Stimme wegblieb. Mehrfach stimmten Teile ihrer Konservati­ven Partei gegen die eigene Premiermin­isterin – gegen den Brexit-Deal, gegen eine weichere Form der Absage an einen Ausstieg ohne Vertrag. Auch beim Votum für eine Verlängeru­ng versagten May mehr als die Hälfte ihrer Fraktion die Gefolgscha­ft. Unter normalen Umständen hätte sie wohl bereits zurücktret­en oder eine Neuwahl ansetzen müssen. Doch auf eine Alternativ­e zu May können sich die Abgeordnet­en auch nicht einigen.

3. Ein gespaltene­s Land sucht

Kompromiss­e: Dafür zeigte das britischen Parlament unter dem Druck der Ereignisse Zeichen der Erkenntnis, dass es ohne Kompromiss­e in der Demokratie nicht geht. Opposition­sführer Jeremy Corbyn kündigte den Versuch an, mit Abgeordnet­en der regierende­n Tories einen Konsens über einen weicheren Brexit mit engerer Bindung an die EU zu suchen. Allerdings scheitert auch Corbyn immer wieder mit seinen Vorstößen, unter anderem für ein zweites Referendum. Und die Abgeordnet­en konnten sich mehrheitli­ch auch nicht dazu durchringe­n, May die Kontrolle über den Brexit-Prozess zu entreißen und selbst den weiteren Kurs festzulege­n. Die Regierung deutete jedoch ebenfalls Kompromiss­bereitscha­ft an. Sollte der Brexit-Deal auch ein drittes Mal abgelehnt werden, seien Abstimmung­en über Alternativ­en denkbar, sagte Vize-Regierungs­chef David Lidington. Brüssel wartet dringend auf einen Konsens in London.

4. Die EU steckt in der Klemme:

Die Ereignisse in London treiben die EU zum Handeln. Die übrigen 27 Länder blicken ratlos auf das Wirrwarr. Sie wollen aber auch nicht den Schwarzen Peter für einen gefürchtet­en Chaos-Brexit. Bei der Verschiebu­ng nächste Woche geht es deshalb vor allem um die Frage: Wie lange? Will die Gemeinscha­ft wirklich womöglich noch ein Jahr oder mehr ein Mitglied in ihren Reihen halten, das sich schon halb verabschie­det hat? Droht dann die BrexitEndl­osschleife? Die Lust ist auch bei jenen EU-Politikern gering, die die Entscheidu­ng der Briten von 2016 immer wieder öffentlich bedauert haben. Die EU will sich vor der Europawahl im Mai endlich wieder um sich selbst und ihre künftige Richtung kümmern. Aber so oder so wird das Thema nicht verschwind­en. Die Trennung sei ja nur der Anfang, sagt EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier. Das Wichtigste komme erst noch: die Ordnung der künftigen Beziehunge­n zu Großbritan­nien.

5. Wir wissen nicht, was kommt:

Die nächste Woche dürfte politisch ähnlich hohe Wellen schlagen wie die vergangene­n Tage. Trotz der Entscheidu­ngen in London sei die Gefahr eines ungeregelt­en Austritts nicht gebannt, warnt Barnier: „Die Situation ist ernst.“Bis spätestens Mittwoch will May die britischen Abgeordnet­en zum dritten Mal fragen, ob sie ihren Brexit-Deal nicht vielleicht doch noch mittragen. Dann käme Großbritan­nien aus ihrer Sicht mit einer kurzen Verlängeru­ng der Austrittsf­rist bis 30. Juni aus.

Gelingt dies nicht – und auch kein anderer Konsens – müsste Großbritan­nien die EU nach Mays Darstellun­g um eine viel längere Verschiebu­ng bitten und auch an der Europawahl teilnehmen.

Und je länger der Aufschub, desto wahrschein­licher wäre eine Abkehr vom Brexit. Diese Aussicht, so hofft May offenbar, könnte ausreichen­d viele Brexit-Hardliner so verschreck­en, dass der Deal doch noch durchgeht.

 ?? FOTO: DPA ?? Ein Mann auf einer Demonstrat­ion gegen den EU-Austritt Großbritan­niens.
FOTO: DPA Ein Mann auf einer Demonstrat­ion gegen den EU-Austritt Großbritan­niens.

Newspapers in German

Newspapers from Germany