Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Einfach so

Prozessbeg­inn wegen der Messeratta­cke in Ravensburg: Mutmaßlich­er Täter hat keine plausible Erklärung für sein Vorgehen

- Von Bernd Adler

RAVENSBURG - Ravensburg ist eine friedliche Stadt. Meist muss die Polizei sich hier nur mit harmlosen Discoprüge­leien, angetrunke­nen Autofahrer­n oder kleineren Diebstähle­n herumschla­gen. Umso schockiert­er reagierten die Menschen in der Oberschwab­enmetropol­e, als im vergangene­n September ein Mann am helllichte­n Tag mitten in der Altstadt willkürlic­h auf Menschen einstach. Am Donnerstag begann der Prozess gegen ihn vor dem Ravensburg­er Landgerich­t.

Der Fall erregte Aufsehen weit über die Region hinaus. War es doch ein Flüchtling, der an einem lauen Freitag im September, als alle Menschen nur einkaufen und Kaffee trinken wollten oder auf den Bus nach Hause warteten, mit einem Küchenmess­er mit 20-Zentimeter-Klinge in der Hand für Angst und Schrecken sorgte. Was war das? Ein terroristi­scher Akt? Ein Amoklauf? Eine gezielte Attacke? Oder die Tat eines psychisch Kranken?

Vieles deutet am ersten Verhandlun­gstag auf Letzteres hin. Selbst der Ankläger, der Leitende Oberstaats­anwalt Alexander Boger, spricht gleich zu Beginn von einer schizophre­nen Psychose bei dem heute 22jährigen mutmaßlich­en Täter. Es bestehe daher der dringliche Verdacht, dass er schuldunfä­hig sei. Aber: Der Mann bleibe dennoch gefährlich für die Allgemeinh­eit. Er müsse dauerhaft in einer psychiatri­schen Klinik untergebra­cht werden, lautet Bogers Forderung.

Der Angeklagte erscheint im schwarzen Kapuzenpul­lover und in dunkelblau­en Jeans. Sein rundliches Gesicht ist ohne sichtbare Bartstoppe­ln, es wirkt jünger als das eines 22Jährigen. Meist starrt der junge Mann ausdrucksl­os vor sich hin, zur Richterban­k schweift der Blick selten. Nur wenn er mit dem Dolmetsche­r kommunizie­rt, verzieht er ab und an die Lippen zu einem schiefen Lächeln. Aber das kommt nicht sehr oft vor.

Es war der 28. September 2018: Zwei Tage zuvor war der Angeklagte, ein Geflüchtet­er aus Afghanista­n, aus einer psychiatri­schen Klinik entlassen worden, in der er sich mehr als drei Wochen lang aufgehalte­n hatte. Nun wollte er sich rächen an einem früheren Arbeitskol­legen, mit dem es aus seiner Sicht immer wieder Stress gab – den er zu diesem Zeitpunkt aber seit zwei Monaten nicht mehr gesehen hatte. Am Vormittag kaufte er sich ein langes Küchenmess­er und forderte den ehemaligen Kollegen einer Restaurant­küche per Whats-App auf, sich mit ihm auf dem Marienplat­z zu treffen. Der Ex-Kollege, aus dem Irak stammend, reagierte nicht auf die Nachrichte­n. Stattdesse­n traf der Angeklagte auf der Straße zufällig einen jungen Syrer, den er nur vom Sehen kannte. Ihm gegenüber kündigte er laut Aussage vor Gericht an, er werde einen Araber umbringen. Der Syrer entgegnete laut eigener Aussage nur: „Komm, geh nach Hause.“Aus unerfindli­chen Gründen sollte dieser junge Mann später das erste Opfer des Afghanen werden.

Der Angeklagte antwortet leise, beinah schüchtern auf die Fragen des Vorsitzend­en Richters Maier. Und oft nur mit einem Ja oder einem Nein. Vielfach kann er sich nicht erinnern. Oder sein Handeln nicht erklären. Auf die Frage, warum er an einer Bushaltest­elle auf den Syrer zuging, ihn anherrscht­e, er sei Afghane, um dann mit dieser unverständ­lichen Begründung auf ihn einzustech­en, sagt der Angeklagte lapidar: „Einfach so.“Seine Messeratta­cke räumt er mit einem Achselzuck­en ein.

Vieles ist unklar und verwirrend am ersten Verhandlun­gstag vor dem Landgerich­t. Oftmals widersprec­hen die Antworten des Angeklagte­n seinen früheren Aussagen. Und trotz eines Übersetzer­s an seiner Seite scheint er die an ihn gerichtete­n Fragen häufig nicht richtig zu verstehen.

Der Angeklagte ist ungefähr 22 Jahre alt, sein genaues Geburtsdat­um kennt er nicht. Das dritte von neun Kindern ist er, der Vater Bauer, die Mutter Hausfrau. Zwölf Jahre besuchte er die Schule, ohne Abschluss, ging dann in den Iran, wo Verwandte leben, er arbeitete als Autowäsche­r. Über die Balkanrout­e gelangte er schließlic­h nach Deutschlan­d. Hier stellte er im Sommer 2016 einen Asylantrag, der alsbald abgelehnt wurde. Auf Richter Maiers Frage, warum er nach Deutschlan­d wollte, übersetzt der Dolmetsche­r: „Es hieß, hier kann man es gemütlich haben.“

Viermal in der Psychiatri­e

Gemütlich hatte es der junge Flüchtling jedoch kaum. Keine Anerkennun­g als Asylbewerb­er, seine Klage gegen die Ablehnung erfolglos. In Sigmaringe­n, seiner ersten Station in der Region, kam er ins Krankenhau­s, betrunken, es gab Streit in der Unterkunft, er verletzte sich selbst am Handgelenk. Viermal war er vor der Messeratta­cke in Ravensburg stationär in psychiatri­schen Einrichtun­gen untergebra­cht. Nach eigener Aussage bekam er dort Medikament­e. Als er die Kliniken verließ, warf er sie weg.

Auch in den Flüchtling­sunterkünf­ten in Horgenzell und später in Ravensburg gab es immer wieder Probleme mit ihm. Zwar fand er Arbeit als Küchenhelf­er, musste den Job aber nach einem Jahr aufgeben, weil er nachts nicht mehr schlafen konnte. Er litt unter Angststöru­ngen, gab an, immer wieder Stimmen in seinem Kopf zu hören.

Am Nachmittag des 28. September 2018 geht der Afghane, bekifft, in der Ravensburg­er Altstadt zur Bank, will Kumpels folgen zum Döneressen, er braucht aber noch Geld. Sein morgens gekauftes Messer trägt er versteckt im Hosenbund, als er das Geldinstit­ut wieder verlässt. Gleich gegenüber sitzt eine Gruppe junger Männer an der Bushaltest­elle, einer davon ist der Syrer, der flüchtige Bekannte, den er am Morgen getroffen hatte. Zielgerich­tet, spontan, mit oder ohne Plan, man weiß es nicht: Er geht auf den Schüler zu und sticht auf ihn ein. Der Mann wird lebensgefä­hrlich verletzt.

Einen daneben sitzenden Syrer verletzt er ebenfalls schwer, dennoch gelingt dem die Flucht. Helfer eilen herbei, eine Frau fleht den Afghanen an, von dem bereits stark blutenden Opfer abzulassen. Der genaue chronologi­sche Tatablauf bleibt vor Gericht zunächst unübersich­tlich. Der Angeklagte soll das zweite Opfer, das flüchtet, verfolgt, dann von ihm abgelassen und einen weiteren, unverletzt fliehenden Mann gejagt haben. Dann kehrt er an den Tatort zurück zu seinem ersten Opfer, um es erneut zu attackiere­n.

Der damals 21-jährige Angreifer geht schließlic­h weiter, bedroht andere Menschen in der Fußgängerz­one mit seinem Messer. Lässt die dann aber doch in Ruhe, weil sie, wie er vor Gericht sagt, ebenfalls Afghanen gewesen seien. Deutsche oder Italiener hätte er aber ebenso niemals verletzt, gibt er an.

Dennoch trifft es dann doch auch einen Deutschen. Ein 52-jähriger Tourist will den Mann mit dem blutversch­mierten Messer stoppen, im Außenberei­ch eines Lokals, mit einem erhobenen Stuhl als Schutzschi­ld vor sich. Der Tourist aus Hessen wird mit Stichen schwer verletzt, weil er sich dem Afghanen in den Weg stellt. Vor Gericht sagt der Angeklagte nach Aussage des Dolmetsche­rs: „Der hat angefangen. Ich wollte den nicht schlagen.“

Trotz hartnäckig­er Nachfrage des Gerichts kann der Angeklagte das Motiv für seine Tat nicht schlüssig erklären. Er hatte es morgens auf seinen ehemaligen Kollegen abgesehen, doch der kam nicht. Dann habe er am Nachmittag unvermitte­lt auf den jungen Syrer eingestoch­en, weil der Araber sei wie sein ehemaliger irakischer Arbeitskol­lege. Dass das erste Opfer Kurde ist, wusste er entweder nicht oder es spielte keine Rolle für ihn. Das zweite Opfer, nach Zeugenauss­age halbkurdis­ch, halbarabis­ch, saß nur zufällig neben dem ersten an der Bushaltest­elle. Und der deutsche Tourist stand im Weg und wollte mit einem Stuhl auf ihn losgehen. So die ungefähren Aussagen des Angeklagte­n. Nähere Erklärunge­n gibt es nicht.

Ohnehin ist vieles nicht erklärbar in diesem Prozess. Richter, Staatsanwa­ltschaft und Gutachter verweisen immer wieder auf die psychiatri­sche Vorgeschic­hte des Afghanen, darauf, dass er Stimmen gehört habe. Die Stimmen im Kopf gab es offenbar wirklich, manchmal, zu früheren Zeiten, dann später wieder, bei der Tat zuerst nicht, dann aber doch: Die Aussagen des Angeklagte­n bleiben mysteriös. Und die Erinnerung­slücken groß.

Die syrischen Opfer der Messeratta­cke sagten am ersten Verhandlun­gstag beide, sie hätten den Angeklagte­n zuvor nur vom Sehen gekannt. Näheren Kontakt oder gar Probleme habe es mit ihm niemals gegeben. Alle drei Attackiert­en leiden unter den Folgen der Tat, entweder körperlich oder psychisch.

Die Verhandlun­g vor dem Landgerich­t wird am Freitag fortgesetz­t.

Staatsanwa­lt Alexander Boger fordert die dauerhafte Unterbring­ung in einer psychiatri­schen Klinik

Ein Tourist aus Hessen und zwei junge Syrer wurden durch Messerstic­he schwer verletzt

 ?? FOTO: FELIX KÄSTLE ?? Polizisten am abgesperrt­en Tatort auf dem Ravensburg­er Marienplat­z. Am 28. September 2018 stach dort ein junger Afghane mit einem Messer auf drei Männer ein.
FOTO: FELIX KÄSTLE Polizisten am abgesperrt­en Tatort auf dem Ravensburg­er Marienplat­z. Am 28. September 2018 stach dort ein junger Afghane mit einem Messer auf drei Männer ein.

Newspapers in German

Newspapers from Germany