Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Warum die letzten Reste des IS eine Gnadenfrist haben
Seit Wochen wird die letzte Bastion des Islamischen Staates (IS) an der Grenze Syriens zum Irak belagert. Die kurdisch dominierten Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF) greifen die Widerstandsnester der Extremisten im Dorf Baghus am Euphrat an. Zudem durchkämmen SDF-Kämpfer die Gegend im äußersten Osten von Syrien, um Tunnel und Minenfelder des IS zu räumen – anschließend soll dort offiziell der Sieg über den IS verkündet werden. Allerdings halten sich weiter westlich, in der Syrischen Wüste, noch Tausende IS-Kämpfer in weitgehend unbesiedeltem Gebiet. Diese Überbleibsel des „Kalifats“könnten in den kommenden Monaten erhebliche politische Bedeutung für den Syrien-Konflikt erhalten. In Baghus haben sich in den vergangenen Wochen mehrere Tausend IS-Kämpfer und Familienangehörige der Extremisten den von den USA unterstützten SDF ergeben. Nur noch wenige Mitglieder der Extremisten-Miliz harren aus; auch in der Nacht zum Freitag wurden sie wieder von SDF-Bodentruppen und US-Kampfflugzeugen angegriffen. Ihre endgültige Niederlage ist nur noch eine Frage der Zeit, ihr „Kalifat“existiert nicht mehr.
Doch der IS lebt weiter. Außerhalb des Einflussbereiches von USA und SDF halten sich Reste der Extremisten. Laut einer Vereinbarung zwischen Washington und Moskau sind US-Truppen in Syrien und ihre kurdischen Verbündeten östlich des Euphrat für den Kampf gegen den IS zuständig. Westlich des Stromes sollen die russische Luftwaffe und die syrische Regierungsarmee gegen die Dschihadisten vorgehen.
Das ist bisher nicht überall geschehen. In einem Teil der Syrischen Wüste zwischen der Ruinenstadt Palmyra im Westen und Deir al-Zor im Osten verstecken sich IS-Trupps in der Einöde und in Höhlen. In jüngster Zeit flogen Russen und Syrer mehrfach Luftangriffe gegen ISStellungen bei der Stadt al-Sukhnah. Bis zu 3000 IS-Kämpfer sollen sich laut unbestätigten Medienberichten in der Gegend aufhalten. Sie verfügen weder über die militärischen Möglichkeiten für Großangriffe etwa auf Palmyra, noch kann die Wüstengegend viele weitere IS-Kämpfer ernähren: Die IS-Trupps in der Syrischen Wüste dürften als Kampfverbände keine Rolle mehr spielen.
Assad will als Retter dastehen
Deshalb stellt sich die Frage, warum die russische Luftwaffe und die syrische Armee nicht gegen die ISKämpfer vorgehen. „Es kann nur eine Antwort geben: Assad will den IS als Buhmann einsetzen“, sagt Spyros Plakoudas, Nahost-Experte an der amerikanischen Universität der Emirate in Dubai, der „Schwäbischen Zeitung“. Plakoudas vermutet, dass die IS-Reste Syriens Präsidenten als Propaganda-Instrument dienen könnten. Assad wolle sich vor der Welt als Kämpfer gegen den Rest des IS profilieren und Hilfe einfordern: „Unterstützt mich, denn ich kann für Sicherheit sorgen“, laute die Botschaft, die er verbreiten wolle.
Deshalb werden die IS-Kämpfer in der Wüste derzeit im Großen und Ganzen in Ruhe gelassen. Assads Regierung konzentriert sich auf das nordwestsyrische Idlib, der letzten von Rebellen gehaltenen Provinz nach acht Jahren Krieg. Dort droht Assad mit einem Großangriff, was das Nachbarland Türkei wegen einer drohenden neuen Flüchtlingsbewegung verhindern will. Assads Regierung erklärt, dass sie „jeden Zentimeter“des Staatsgebietes wieder unter ihre Kontrolle bringen will.
Erst wenn die Situation in Idlib geklärt ist, dürfte sich Assad den ISTrupps in der Wüste zuwenden. Vorerst also wird der Islamische Staat in den Weiten eines der größten Wüstengebiete der Welt weiter existieren können.