Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Ein Opernabend als kritische Sozialstudie
Gelungene Neuinszenierung von Puccinis „La fanciulla del West“am Nationaltheater München
MÜNCHEN - „Kunst ist schön, aber macht auch viel Arbeit.“So räsonierte einst Karl Valentin. Bei Giacomo Puccinis Wildwest-Oper „La fanciulla del West“(„Das Mädchen aus dem goldenen Westen“) schien das Opernpublikum diese Arbeit bislang zu scheuen. Seit der Uraufführung 1910 in der Metropolitan Opera in New York war man nur noch selten willens, sich um dieses anspruchsvolle Werk zu bemühen. Nun hat Andreas Dresen, bekannt vor allem als Filmregisseur („Halt auf freier Strecke“, „Gundermann“), sich mit Erfolg an eine Neuinszenierung am Nationaltheater München gewagt.
Zu Zeiten der Uraufführung war das Opernpublikum enttäuscht. Erwartet wurde von Puccini tiefste Emotionen auslösende Musik, wie bei „La Bohème“, „Tosca“und „Madame Butterfly“– Melodien, unvergesslich schon nach erstem Hören. Dem Seelenfänger Puccini verfallen, hatte man sich eine wundersame Liaison von Tosca und Old Shatterhand erhofft – und sah sich mit einer hochintelligenten Verbindung von italienischer Oper und unsentimentaler Goldgräber-Folklore konfrontiert. Denn die Kompositionstechnik Puccinis hatte sich in den sieben Jahren seit „Madame Butterfly“meisterhaft entwickelt. Neu war die bewegliche Rezitativgestaltung, gestützt auf eine wortnahe, farbenreiche Begleitung durch das Orchester – zu Ungunsten der schlagkräftigen Gesangsoper, wie schon seit einem Jahrhundert die von Puccinis populärer Melodik verwöhnten Hörer nörgeln. Diese nehmen dem Komponisten übel, dass er bei der Oper „La fanciulla del West“auf den Nummerneffekt, ob Arie oder Duett, zugunsten der Geschlossenheit des Ganzen verzichtete.
Überraschend mag in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auch gewesen sein, dass Puccini sein Drama in einer Welt ansiedelte, die man hierzulande nur bei Karl May suchte, wenig später auch in Wildwest-Filmen – anstatt in Europa, der Welt des schönen Scheins.
Subtil gezeichnete Charaktere
Andreas Dresen gehört zu den raren Regisseuren, die sich nicht als CoAutoren aufspielen, sondern einfach das Stück inszenieren. Er präsentiert es als düstere Ballade über den Goldrausch in Kalifornien um 1850. Man traut seinen Augen kaum: ein naturalistisches Schauspiel, unverstellte Gefühle, bis zum einzelnen Minenarbeiter subtil gezeichnete Charaktere, selbst größere Chorszenen individuell aufgefächert. „La fanciulla del West“ist ein Opernabend als kritische Sozialstudie, in jedem Augenblick fesselnd.
Das naturalistische Konzept verwirklichen auch die Sänger mit Hingabe: Anja Kampe als spröde Schankwirtin Minnie, als eine Mutter Courage für die ausgepowerte Männerschar der glücksarmen Goldschürfer. Kampe meistert die immens anspruchsvolle Partie souverän mit fülligem Sopran, ihre Intensität rettet auch den dramatisch und musikalisch schwachen Ausklang. Minnies Auserkorener Dick Johnson (Brandon Jovanovich) darf mit dem Charme des Verführers die einzige Arie singen. Doch „Ch’ella mi creda libero e lontano“hätte eine Spur mehr Schmelz vertragen. John Lundgren versteckte die moralischen Schwächen des Sheriffs Jack Rance mit Stimmglanz und spielte einen dämonischen Scarpia nicht zu brutal aus.
James Gaffigan debütierte am Pult. Er dirigierte das vermutlich auch den Musikern zunächst unbekannte Werk souverän. Und so wurde aus Dresens mutiger Neuinszenierung ein großer, widerspruchsloser Erfolg. Die Hörgewohnheiten haben sich im 20. Jahrhundert wohl doch so entwickelt, dass auch durchkomponierte Opern ohne eindeutige Höhepunkte geschätzt werden. Vielleicht kommt es noch zu einer Ehrenrettung von „La fanciulla del West“.
Weitere Aufführungen: 26., 30. März, 2., 26., 29. April, 9., 13., 16., 19. Mai, www.staatsoper.de