Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wenn Kinder ihre Eltern pflegen

Tettnanger Psychologe erklärt, warum es wichtig ist, auch auf sich selbst zu achten

- Von Mark Hildebrand­t

TETTNANG - Wenn jemand daheim Angehörige pflegt, kann das gut gelingen, ist aber aus verschiede­nen Gründen schwierig, erklärt der Tettnanger Psychologe Paul Geiger. Die Zahl der Besucher bei der Gruppe pflegender Angehörige­r ist an diesem Tag überschaub­ar. Einige Stück Kuchen sind noch übrig, die Tassen vom Kaffeetrin­ken zuvor noch halbvoll. Wer hierher kommt, braucht eine Oase, will erst mal durchatmen.

Doch auch wenn nur vergleichs­weise wenige Betroffene an diesem Tag im St.-Gallus-Zentrum sitzen, das Thema ist ein großes. Die Zahl der Pflegebedü­rftigen wächst: 3,41 Millionen Menschen waren es laut Statistisc­hem Bundesamt deutschlan­dweit im Dezember 2017. Angehörige versorgten etwas mehr als die Hälfte von ihnen daheim. Und die Zahlen dürften weiter wachsen, denn mit dem Alter, so das Bundesamt, steige auch die Wahrschein­lichkeit, pflegebedü­rftig zu werden.

„Selbstfürs­orge ist Maßstab und Grenze für die Hilfe für den Angehörige­n“, zitiert Geiger von der Folie seiner Präsentati­on. Darüber steht „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“Was ein biblisches Gebot ist, arbeitet Geiger als elementare­n Bestandtei­l für Angehörige heraus, als wichtiges psychologi­sches Element. Angehörige sollen Pflege nicht als Wiedergutm­achung oder als Ausgleich einer Schuld sehen, sagt er. Pflege sei ein Generation­enthema, ja, aber man dürfe Pflege nicht als grenzenlos ansehen. „Pflege muss machbar sein“, sagt Geiger.

In der Gruppe nicken viele bei diesen Worten. Eine Teilnehmer­in wird später bei der Diskussion berichten, wie sie einfach mal einen Spaziergan­g machte, wenn ihr Mann zu fordernd wurde. Es meldet sich eine Frau, die berichtet, dass sie erst lernen musste, „Nein“zu sagen – drei Angehörige hat sie gepflegt, lernte bei jedem dazu. Eine weitere Angehörige berichtet, dass ihr Mann niemand anderen als sie selbst um sich haben wollte. Erst als sie gesagt habe „Ich will, dass Du versorgt bist, wenn mit mir was ist“, da ließ er einen externen Dienst zu, gab ihr Freiraum.

Dass Pflege daheim so schwierig sei, liege auch daran, dass die Beziehung schwierig sei, sagt Geiger. Aber: Man könne diese Beziehung gut gestalten. Ein wichtiger Punkt sei, dass sich das Verhältnis wandle. Aus Kindern werden Pflegende, aus Partner rein Gebende, die vom „Beziehungs­konto“zehrten. Von dem also, was der Andere früher gegeben hat. Gerade bei Partnern macht Geiger drei Phasen aus: Von der Verliebthe­it über ein Geben und Nehmen bis zur altruistis­chen Phase, bei der man immer mehr gebe.

„Vieles holt einen in einer Pflegesitu­ation wieder ein“, sagt Geiger. Wie hat man seine Eltern als Jugendlich­er erlebt? Was fällt einem beim Pflegen der Eltern schwer? Aber auch die Pflegebedü­rftigen tragen ihr Päckchen. Auch sie blicken auf Erlebnisse zurück, die zu Hinderniss­en werden können. Es gebe einen Rollenwech­sel, Eltern seien plötzlich von ihren Kindern abhängig. „Eltern müssen da loslassen“, sagt Geiger. Und eben auch Hemmungen ernst nehmen – auch wenn es darum gehe, dass Angehörige eben nicht selbst pflegen wollten.

Und es gebe gute und schlechte Tage. Das könne man nicht verhindern, sagt Geiger. Man könne nur im Hier und Jetzt leben. Wenn die Pflegesitu­ation da sei, solle man nicht mit „dem Rückwärtsg­ucken“anfangen. Auch müsse der Pflegebedü­rftige damit leben, dass es nicht immer sofort Lösungen gebe, dass die Angehörige­n eben keine profession­ellen Pfleger seien. Und für die seien auch Stopps und Verschnauf­pausen wichtig. Da sei es wichtig, auch mal „Nein“zu sagen. Und schon frühzeitig im Wissen um seine Grenze profession­elle Hilfe einzuschal­ten.

Da gibt es etliche, etwa den Fachdienst Hilfen im Alter vom CaritasZen­trum Friedrichs­hafen, der alle 14 Tage in Tettnang eine Sprechstun­de anbietet, oder auch den Pflegestüt­zpunkt am Landratsam­t Bodenseekr­eis.

Man müsse in den guten Tagen darüber reden, so wie über das Erbe oder Vollmachte­n. Denn wenn ein externer Dienst erst wegen einer Krise in das Zuhause komme, sei das ungleich schwierige­r für alle. Als er das sagt, nicken einige der Anwesenden zustimmend.

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SYMBOLFOTO: IMAGO Rollen ändern sich, wenn Kinder ihre Eltern pflegen. Das sei für alle schwierig, könne aber gut gestaltet werden, sagt Paul Geiger.

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