Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wenn Kinder ihre Eltern pflegen
Tettnanger Psychologe erklärt, warum es wichtig ist, auch auf sich selbst zu achten
TETTNANG - Wenn jemand daheim Angehörige pflegt, kann das gut gelingen, ist aber aus verschiedenen Gründen schwierig, erklärt der Tettnanger Psychologe Paul Geiger. Die Zahl der Besucher bei der Gruppe pflegender Angehöriger ist an diesem Tag überschaubar. Einige Stück Kuchen sind noch übrig, die Tassen vom Kaffeetrinken zuvor noch halbvoll. Wer hierher kommt, braucht eine Oase, will erst mal durchatmen.
Doch auch wenn nur vergleichsweise wenige Betroffene an diesem Tag im St.-Gallus-Zentrum sitzen, das Thema ist ein großes. Die Zahl der Pflegebedürftigen wächst: 3,41 Millionen Menschen waren es laut Statistischem Bundesamt deutschlandweit im Dezember 2017. Angehörige versorgten etwas mehr als die Hälfte von ihnen daheim. Und die Zahlen dürften weiter wachsen, denn mit dem Alter, so das Bundesamt, steige auch die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden.
„Selbstfürsorge ist Maßstab und Grenze für die Hilfe für den Angehörigen“, zitiert Geiger von der Folie seiner Präsentation. Darüber steht „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“Was ein biblisches Gebot ist, arbeitet Geiger als elementaren Bestandteil für Angehörige heraus, als wichtiges psychologisches Element. Angehörige sollen Pflege nicht als Wiedergutmachung oder als Ausgleich einer Schuld sehen, sagt er. Pflege sei ein Generationenthema, ja, aber man dürfe Pflege nicht als grenzenlos ansehen. „Pflege muss machbar sein“, sagt Geiger.
In der Gruppe nicken viele bei diesen Worten. Eine Teilnehmerin wird später bei der Diskussion berichten, wie sie einfach mal einen Spaziergang machte, wenn ihr Mann zu fordernd wurde. Es meldet sich eine Frau, die berichtet, dass sie erst lernen musste, „Nein“zu sagen – drei Angehörige hat sie gepflegt, lernte bei jedem dazu. Eine weitere Angehörige berichtet, dass ihr Mann niemand anderen als sie selbst um sich haben wollte. Erst als sie gesagt habe „Ich will, dass Du versorgt bist, wenn mit mir was ist“, da ließ er einen externen Dienst zu, gab ihr Freiraum.
Dass Pflege daheim so schwierig sei, liege auch daran, dass die Beziehung schwierig sei, sagt Geiger. Aber: Man könne diese Beziehung gut gestalten. Ein wichtiger Punkt sei, dass sich das Verhältnis wandle. Aus Kindern werden Pflegende, aus Partner rein Gebende, die vom „Beziehungskonto“zehrten. Von dem also, was der Andere früher gegeben hat. Gerade bei Partnern macht Geiger drei Phasen aus: Von der Verliebtheit über ein Geben und Nehmen bis zur altruistischen Phase, bei der man immer mehr gebe.
„Vieles holt einen in einer Pflegesituation wieder ein“, sagt Geiger. Wie hat man seine Eltern als Jugendlicher erlebt? Was fällt einem beim Pflegen der Eltern schwer? Aber auch die Pflegebedürftigen tragen ihr Päckchen. Auch sie blicken auf Erlebnisse zurück, die zu Hindernissen werden können. Es gebe einen Rollenwechsel, Eltern seien plötzlich von ihren Kindern abhängig. „Eltern müssen da loslassen“, sagt Geiger. Und eben auch Hemmungen ernst nehmen – auch wenn es darum gehe, dass Angehörige eben nicht selbst pflegen wollten.
Und es gebe gute und schlechte Tage. Das könne man nicht verhindern, sagt Geiger. Man könne nur im Hier und Jetzt leben. Wenn die Pflegesituation da sei, solle man nicht mit „dem Rückwärtsgucken“anfangen. Auch müsse der Pflegebedürftige damit leben, dass es nicht immer sofort Lösungen gebe, dass die Angehörigen eben keine professionellen Pfleger seien. Und für die seien auch Stopps und Verschnaufpausen wichtig. Da sei es wichtig, auch mal „Nein“zu sagen. Und schon frühzeitig im Wissen um seine Grenze professionelle Hilfe einzuschalten.
Da gibt es etliche, etwa den Fachdienst Hilfen im Alter vom CaritasZentrum Friedrichshafen, der alle 14 Tage in Tettnang eine Sprechstunde anbietet, oder auch den Pflegestützpunkt am Landratsamt Bodenseekreis.
Man müsse in den guten Tagen darüber reden, so wie über das Erbe oder Vollmachten. Denn wenn ein externer Dienst erst wegen einer Krise in das Zuhause komme, sei das ungleich schwieriger für alle. Als er das sagt, nicken einige der Anwesenden zustimmend.