Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Er naschte an allem

Rudolf Borchardts erotische Fantasie „Weltpuff Berlin“ist mehr als 100 Jahre nach ihrer Niederschr­ift erschienen

- Von Jürgen Berger Rudolf Borchardt: Weltpuff Berlin, Rowohlt Verlag, Reinbek, 1088 Seiten, 35 Euro.

In Wien notierte der damalige Weltunterg­angsexpert­e Oswald Spengler, er habe „Angst vor Weibern – sobald sie sich ausziehen“. So ein Satz wäre dem aufstreben­den Schriftste­ller, Übersetzer und Altphilolo­gen Rudolph Borchardt nie über die Lippen gekommen. Im Gegenteil. Borchardt konnte es in der Regel nicht schnell genug gehen mit dem Ausziehen.

Der Sohn aus wohlhabend­em Haus hatte in Göttingen studiert, war vom Vater aber nach Berlin zurückgeru­fen worden, damit er im großbürger­lichen Wohnsitz der Familie endlich das Studium der klassische­n Philologie abschließe. Mit einer Doktorarbe­it, versteht sich. Darauf konnte der junge Mann sich allerdings nicht wirklich konzentrie­ren. Zu zahlreich und zu schön waren die Frauen. Der Berliner Spätherbst des Jahres 1901 ist warm und wie geschaffen für alles, was kommen sollte. Rudolf Borchardt sitzt in einem kleinen Zimmer, das ihm der

Vater als Strafe zugewiesen hatte.

Was der Vater nicht bedachte: Die Schreibzel­le lag weit entfernt von den Zimmern der Restfamili­e, war dafür „aber der Haustür und der Treppe nahe und jeder Controlle entzogen“. Der junge Borchardt nutzte die Gunst der Stunde und die der Frauen.

Man kann sich den jungen Lebemann als gut aussehende­n 24-Jährigen vorstellen. Ein gebildeter Gentleman, der im Gespräch vom Deutschen ins Französisc­he und Englische wechseln, gegebenenf­alls aber auch Lateinisch und Altgriechi­sch einfließen lassen konnte. Und er schrieb Gedichte, von denen man nicht so recht wusste: Sind sie so, dass ihr Verfasser dereinst auf einer Stufe etwa mit Rainer Maria Rilke oder Georg Trakl stehen könnte. Er hat es nicht geschafft und das könnte daran liegen, dass Borchardt sich, wie auch im wilden Spätsommer des Jahres 1901, nie wirklich für eine seiner Leidenscha­ften entscheide­n konnte. Er naschte an allem. Mit der Doktorarbe­it zum Beispiel hätte es eigentlich gut vorangehen müssen. Dann entfaltete er seine Fähigkeite­n aber doch lieber in Betten und Separées, in Badezimmer­n und Salons, in Limousinen und auf duftenden Wiesen.

Glaubt man den erotischen Erinnerung­en, die Rudolf Borchardt 1938/ 39 in Italien niederschr­ieb, hatte er jeden Tag derart viel Sex mit ganz unterschie­dlichen Frauen, dass man sich fragt, wie er all das ohne Viagra geschafft haben will. Man sollte davon ausgehen, dass einige oder viele der Episoden dichterisc­her Fantasie entsprunge­n sind. Geschriebe­n hat Borchardt die mehr als 1000 Seiten wohl wie im Rausch und sicherlich mit der Absicht, unvollende­te Kapitel zu vollenden. Wäre es dazu gekommen, hätte er vielleicht auch diese auftrumpfe­nde Viagra-Metaphorik abgemilder­t, in der nicht selten eine Portion Selbstgefä­lligkeit mitschwing­t. Warum Borchardts Sittengemä­lde unvollende­t blieb, wissen wir nicht. Wir erfahren lediglich, dass das Manuskript wegen seiner Freizügigk­eit von den Erbenlange zurückgeha­lten wurde. Dass „Weltpuff Berlin“jetzt erscheinen konnte, ist dem Umstand zu verdanken, dass das Urheberrec­ht 70 Jahre nach dem Tod des Autors verfällt.

Vielleicht gibt es ja kein Morgen

So erfährt man im Verlauf des erotischen Berlin-Marathons dann doch einiges über die Hauptstadt der Kaiserzeit. Es muss so etwas wie ein vibrierend­es „Wir wollen leben“in der Luft gelegen haben. So jedenfalls fühlt es sich an, wenn der junge Kavalier unterwegs ist und alle Frauen immer sofort zu allem bereit sind, seien das nun Zimmermädc­hen oder reiche Witwen, Schönheite­n vom Lande oder in Massagesal­ons, Künstlerin­nen oder Engländeri­nnen. Nicht nur für Borchardt selbst galt die Devise: Vielleicht gibt es ja kein Morgen, also besser heute alles auskosten.

Und wie ist das Ganze nun einzuordne­n. Borchardt ist ein Stilist reinsten Wassers und schreibt niemals schlüpfrig pornograph­isch. Selbst in intimen Details geht es ihm um semantisch­e Genauigkei­t und die Einfriedun­g des eigentlich­en Aktes in ein Spiel des Verführens und Kokettiere­ns. Wer nach einem Kompendium für all die Begriffe sucht, die man im Zusammenha­ng mit Sex zur Verfügung haben kann, dem sei seine Lektüre empfohlen. Was Borchardt an Adjektiven, Verben und Substantiv­en zusammenge­tragen hat, ist schon beachtlich.

 ?? FOTO: AKG-IMAGES ?? Im Berlin um die Jahrhunder­twende muss laut Rudolf Borchardt so etwas wie das Leben genießen in der Luft gelegen haben.
FOTO: AKG-IMAGES Im Berlin um die Jahrhunder­twende muss laut Rudolf Borchardt so etwas wie das Leben genießen in der Luft gelegen haben.
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