Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Er naschte an allem
Rudolf Borchardts erotische Fantasie „Weltpuff Berlin“ist mehr als 100 Jahre nach ihrer Niederschrift erschienen
In Wien notierte der damalige Weltuntergangsexperte Oswald Spengler, er habe „Angst vor Weibern – sobald sie sich ausziehen“. So ein Satz wäre dem aufstrebenden Schriftsteller, Übersetzer und Altphilologen Rudolph Borchardt nie über die Lippen gekommen. Im Gegenteil. Borchardt konnte es in der Regel nicht schnell genug gehen mit dem Ausziehen.
Der Sohn aus wohlhabendem Haus hatte in Göttingen studiert, war vom Vater aber nach Berlin zurückgerufen worden, damit er im großbürgerlichen Wohnsitz der Familie endlich das Studium der klassischen Philologie abschließe. Mit einer Doktorarbeit, versteht sich. Darauf konnte der junge Mann sich allerdings nicht wirklich konzentrieren. Zu zahlreich und zu schön waren die Frauen. Der Berliner Spätherbst des Jahres 1901 ist warm und wie geschaffen für alles, was kommen sollte. Rudolf Borchardt sitzt in einem kleinen Zimmer, das ihm der
Vater als Strafe zugewiesen hatte.
Was der Vater nicht bedachte: Die Schreibzelle lag weit entfernt von den Zimmern der Restfamilie, war dafür „aber der Haustür und der Treppe nahe und jeder Controlle entzogen“. Der junge Borchardt nutzte die Gunst der Stunde und die der Frauen.
Man kann sich den jungen Lebemann als gut aussehenden 24-Jährigen vorstellen. Ein gebildeter Gentleman, der im Gespräch vom Deutschen ins Französische und Englische wechseln, gegebenenfalls aber auch Lateinisch und Altgriechisch einfließen lassen konnte. Und er schrieb Gedichte, von denen man nicht so recht wusste: Sind sie so, dass ihr Verfasser dereinst auf einer Stufe etwa mit Rainer Maria Rilke oder Georg Trakl stehen könnte. Er hat es nicht geschafft und das könnte daran liegen, dass Borchardt sich, wie auch im wilden Spätsommer des Jahres 1901, nie wirklich für eine seiner Leidenschaften entscheiden konnte. Er naschte an allem. Mit der Doktorarbeit zum Beispiel hätte es eigentlich gut vorangehen müssen. Dann entfaltete er seine Fähigkeiten aber doch lieber in Betten und Separées, in Badezimmern und Salons, in Limousinen und auf duftenden Wiesen.
Glaubt man den erotischen Erinnerungen, die Rudolf Borchardt 1938/ 39 in Italien niederschrieb, hatte er jeden Tag derart viel Sex mit ganz unterschiedlichen Frauen, dass man sich fragt, wie er all das ohne Viagra geschafft haben will. Man sollte davon ausgehen, dass einige oder viele der Episoden dichterischer Fantasie entsprungen sind. Geschrieben hat Borchardt die mehr als 1000 Seiten wohl wie im Rausch und sicherlich mit der Absicht, unvollendete Kapitel zu vollenden. Wäre es dazu gekommen, hätte er vielleicht auch diese auftrumpfende Viagra-Metaphorik abgemildert, in der nicht selten eine Portion Selbstgefälligkeit mitschwingt. Warum Borchardts Sittengemälde unvollendet blieb, wissen wir nicht. Wir erfahren lediglich, dass das Manuskript wegen seiner Freizügigkeit von den Erbenlange zurückgehalten wurde. Dass „Weltpuff Berlin“jetzt erscheinen konnte, ist dem Umstand zu verdanken, dass das Urheberrecht 70 Jahre nach dem Tod des Autors verfällt.
Vielleicht gibt es ja kein Morgen
So erfährt man im Verlauf des erotischen Berlin-Marathons dann doch einiges über die Hauptstadt der Kaiserzeit. Es muss so etwas wie ein vibrierendes „Wir wollen leben“in der Luft gelegen haben. So jedenfalls fühlt es sich an, wenn der junge Kavalier unterwegs ist und alle Frauen immer sofort zu allem bereit sind, seien das nun Zimmermädchen oder reiche Witwen, Schönheiten vom Lande oder in Massagesalons, Künstlerinnen oder Engländerinnen. Nicht nur für Borchardt selbst galt die Devise: Vielleicht gibt es ja kein Morgen, also besser heute alles auskosten.
Und wie ist das Ganze nun einzuordnen. Borchardt ist ein Stilist reinsten Wassers und schreibt niemals schlüpfrig pornographisch. Selbst in intimen Details geht es ihm um semantische Genauigkeit und die Einfriedung des eigentlichen Aktes in ein Spiel des Verführens und Kokettierens. Wer nach einem Kompendium für all die Begriffe sucht, die man im Zusammenhang mit Sex zur Verfügung haben kann, dem sei seine Lektüre empfohlen. Was Borchardt an Adjektiven, Verben und Substantiven zusammengetragen hat, ist schon beachtlich.