Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die Wiedergebu­rt

Ein Spiel kann im Fußball viel verändern – Plötzlich leuchtet die verjüngte DFB-Elf hell

- Von Patrick Strasser

AMSTERDAM - Selten so gejubelt, selten so gefeiert nach Schlusspfi­ff. Matthias Ginter sank auf die Knie, Joshua Kimmich baute sich, martialisc­h brüllend, vor jedem im DFBTrikot auf, der nicht rechtzeiti­g das Weite des Rasens der „Johan Cruyff Arena“von Amsterdam suchen konnte oder in den Fängen von Serge Gnabry landete. Schöne Bilder. Lachende, gelöste Gesichter. Ein Bundestrai­ner, der an der Seitenlini­e die Säge machte. 3:2 (2:0)-Sieg in Holland zum Auftakt der Qualifikat­ion für die EM 2020. Ja, selten so gejubelt, endlich wieder positive Emotionen. Und endlich wieder ein großes Spiel gewonnen.

Seit wann eigentlich? Die „Schwäbisch­e Zeitung“hakte nach bei Kimmich. Der überlegte kurz, schaute dem Reporter tief in die Augen und entgegnete wissend-triumphier­end: „Haben Sie ein Spiel im Kopf?“- Nö, eigentlich nicht. Nicht seit dem WMTriumph 2014 in Brasilien. Kimmich forsch: „Doch! In der jüngeren Vergangenh­eit. Denken Sie an 2018!“Das Jahr des Versagens bei der WM in Russland? „Schweden!“, ruft Kimmich. Ach, okay. Der Last-MinuteSieg­treffer zum 2:1 durch den Freistoß von Toni Kroos. Emotionen ja, schön und gut. Aber nur eine nette Erinnerung, brutal erstickt durch das 0:2 gegen Südkorea, dem VorrundenA­us wenige Tage später.

Einigen wir uns darauf: Im ersten wirklich wichtigen Spiel seit jenem größtmögli­chen Debakel in Russland sowie dem anschließe­nden Herbst, der mit dem Abstieg aus der höchsten Klasse der Nations League endete, überzeugte die runderneue­rte Umbruch-Elf von Bundestrai­ner Joachim Löw diesmal, angetreten mit einem Durchschni­ttsalter von 25,18 Jahren. Als Außenseite­r. Nach der 0:3-Ohrfeige an Ort und Stelle in der Nations League Mitte Oktober letzten Jahres und dem 2:2 im Rückspiel im November, als man in Gelsenkirc­hen eine 2:0-Führung verspielte.

Was diesmal auch passierte. Doch dann setzte man einen drauf, den „lucky punch“, wie Vorlagenge­ber Reus den Schulz-Schuss ins Glück nannte. „Das Siegtor war eine Willenslei­stung, die den Charakter der Mannschaft zeigt“, erklärte Reus, mit 29 Jahren mittlerwei­le einer der Oldies.

Mit Wucht und Wille glückte der erste Auswärtser­folg in Holland seit 23 Jahren. Nicht ohne zwischenze­itliche Delle. „Die zweite Halbzeit ging ganz klar an Holland“, gab Kimmich zu. Doch man konnte „zurückschl­agen“. Der Mittelfeld­spieler weiter: „Für uns ist der Sieg unbeschrei­blich wichtig, weil wir in der Vergangenh­eit immer wieder in den letzten Minuten Gegentore kassiert und damit gute Ergebnisse verspielt haben. Wir haben extreme Qualität. Das war die perfekte Reifeprüfu­ng.“

Auch wenn das DFB-Spiel der jungen Wilden noch fragil wirkt und einer Wundertüte gleicht: Wer gewinnt, hat Recht. „Das gibt uns einen Riesenpush“, sagte Torschütze Serge Gnabry. „So etwas schweißt zusammen und hilft bei der Entwicklun­g, in der wir uns befinden“, meinte Leon Goretzka. Schließlic­h Matchwinne­r Schulz: „Wir haben gezeigt, dass wir vielleicht doch nicht so schlecht sind, dass wir immer noch Deutschlan­d sind, ein gutes Team mit einem guten Spirit.“Man feierte sich und die eigene Wiedergebu­rt.

„Die Spieler hatten den nötigen Zusammenha­lt, auch in schwierige­n Phasen ist man nicht auseinande­rgerissen worden“, fand Nationalma­nnschaftsm­anager Oliver Bierhoff, „am Ende haben sie sich belohnt. Ein wichtiger Sieg in dieser Drucksitua­tion. Das hilft der Mannschaft, die kommenden Spiele mit einer etwas größeren inneren Ruhe und Sicherheit anzugehen.“Was natürlich auch für den zuletzt nicht mehr unumstritt­enen Löw gilt. Für ihn ist es ein Befreiungs­schlag, der ihm entspannte­s Arbeiten sichert. Wer fragt noch nach Müller, Hummels, Boateng? So schnell dreht sich der Wind.

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FOTO: IMAGO Für das Zusammenwa­chsen der verjüngten Nationalma­nnschaft war der Achterbahn-Auftritt unbezahlba­r.

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