Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Wiedergeburt
Ein Spiel kann im Fußball viel verändern – Plötzlich leuchtet die verjüngte DFB-Elf hell
AMSTERDAM - Selten so gejubelt, selten so gefeiert nach Schlusspfiff. Matthias Ginter sank auf die Knie, Joshua Kimmich baute sich, martialisch brüllend, vor jedem im DFBTrikot auf, der nicht rechtzeitig das Weite des Rasens der „Johan Cruyff Arena“von Amsterdam suchen konnte oder in den Fängen von Serge Gnabry landete. Schöne Bilder. Lachende, gelöste Gesichter. Ein Bundestrainer, der an der Seitenlinie die Säge machte. 3:2 (2:0)-Sieg in Holland zum Auftakt der Qualifikation für die EM 2020. Ja, selten so gejubelt, endlich wieder positive Emotionen. Und endlich wieder ein großes Spiel gewonnen.
Seit wann eigentlich? Die „Schwäbische Zeitung“hakte nach bei Kimmich. Der überlegte kurz, schaute dem Reporter tief in die Augen und entgegnete wissend-triumphierend: „Haben Sie ein Spiel im Kopf?“- Nö, eigentlich nicht. Nicht seit dem WMTriumph 2014 in Brasilien. Kimmich forsch: „Doch! In der jüngeren Vergangenheit. Denken Sie an 2018!“Das Jahr des Versagens bei der WM in Russland? „Schweden!“, ruft Kimmich. Ach, okay. Der Last-MinuteSiegtreffer zum 2:1 durch den Freistoß von Toni Kroos. Emotionen ja, schön und gut. Aber nur eine nette Erinnerung, brutal erstickt durch das 0:2 gegen Südkorea, dem VorrundenAus wenige Tage später.
Einigen wir uns darauf: Im ersten wirklich wichtigen Spiel seit jenem größtmöglichen Debakel in Russland sowie dem anschließenden Herbst, der mit dem Abstieg aus der höchsten Klasse der Nations League endete, überzeugte die runderneuerte Umbruch-Elf von Bundestrainer Joachim Löw diesmal, angetreten mit einem Durchschnittsalter von 25,18 Jahren. Als Außenseiter. Nach der 0:3-Ohrfeige an Ort und Stelle in der Nations League Mitte Oktober letzten Jahres und dem 2:2 im Rückspiel im November, als man in Gelsenkirchen eine 2:0-Führung verspielte.
Was diesmal auch passierte. Doch dann setzte man einen drauf, den „lucky punch“, wie Vorlagengeber Reus den Schulz-Schuss ins Glück nannte. „Das Siegtor war eine Willensleistung, die den Charakter der Mannschaft zeigt“, erklärte Reus, mit 29 Jahren mittlerweile einer der Oldies.
Mit Wucht und Wille glückte der erste Auswärtserfolg in Holland seit 23 Jahren. Nicht ohne zwischenzeitliche Delle. „Die zweite Halbzeit ging ganz klar an Holland“, gab Kimmich zu. Doch man konnte „zurückschlagen“. Der Mittelfeldspieler weiter: „Für uns ist der Sieg unbeschreiblich wichtig, weil wir in der Vergangenheit immer wieder in den letzten Minuten Gegentore kassiert und damit gute Ergebnisse verspielt haben. Wir haben extreme Qualität. Das war die perfekte Reifeprüfung.“
Auch wenn das DFB-Spiel der jungen Wilden noch fragil wirkt und einer Wundertüte gleicht: Wer gewinnt, hat Recht. „Das gibt uns einen Riesenpush“, sagte Torschütze Serge Gnabry. „So etwas schweißt zusammen und hilft bei der Entwicklung, in der wir uns befinden“, meinte Leon Goretzka. Schließlich Matchwinner Schulz: „Wir haben gezeigt, dass wir vielleicht doch nicht so schlecht sind, dass wir immer noch Deutschland sind, ein gutes Team mit einem guten Spirit.“Man feierte sich und die eigene Wiedergeburt.
„Die Spieler hatten den nötigen Zusammenhalt, auch in schwierigen Phasen ist man nicht auseinandergerissen worden“, fand Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff, „am Ende haben sie sich belohnt. Ein wichtiger Sieg in dieser Drucksituation. Das hilft der Mannschaft, die kommenden Spiele mit einer etwas größeren inneren Ruhe und Sicherheit anzugehen.“Was natürlich auch für den zuletzt nicht mehr unumstrittenen Löw gilt. Für ihn ist es ein Befreiungsschlag, der ihm entspanntes Arbeiten sichert. Wer fragt noch nach Müller, Hummels, Boateng? So schnell dreht sich der Wind.