Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die kleinen Knechte
Auch Kinder aus Oberschwaben wurden früher in den Sommermonaten zum Arbeitsdienst aufs Land geschickt und ausgebeutet
WEINGARTEN - „Die soziale Notlage zwingt viele Eltern, ihre Kinder arbeiten zu lassen, um dem Elend zu entgehen“, heißt es in einem Magazin für Pädagogik vom 16. September 1900. Doch gemeint ist damit nicht nur das traurige Schicksal der sogenannten Schwabenkinder, die im Frühjahr aus Bergregionen als Saisonarbeitskräfte auf die Höfe Oberschwabens kamen. Dieser Bereich ist mittlerweile recht gut erforscht und auch in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen. Doch was kaum jemand weiß: Auch viele oberschwäbische Kinder mussten in den Sommermonaten des 19. und 20. Jahrhunderts harter Arbeit auf dem Land nachgehen – mit teils katastrophalen Auswirkungen auf Körper, Sozialleben und Zukunftsperspektive.
Doch genau auf dieses Thema ist nun Erich Müller-Gaebele aufmerksam geworden. Eigentlich hatte sich der emeritierte Professor der Pädagogischen Hochschule Weingarten (PH) mit den historischen Schulhäusern im Landkreis Ravensburg beschäftigt. Bei seinen Forschungen stieß er in alten Landschulen auf hochinteressante Schulakten wie Protokollbücher, Versäumnislisten, Lehrertagebücher und vor allem sogenannte Übergabescheine. Letztere dokumentieren, dass eine große Zahl an Schülern im Sommer die angestammten Schulen in Städten wie Bad Waldsee, Ravensburg, Weingarten, Leutkirch oder Wangen verließ und an Landschulen „übergeben“wurde, um dort zeitweise den Unterricht zu besuchen.
„Man hat sie einfach übersehen“
Erst so entdeckte Müller-Gaebele die sogenannten „fremden Dienstkinder“. Das erklärt auch, warum andere Historiker diese Problematik bislang noch nicht entdeckt haben. Denn in den offiziellen Registern der Rathäuser und Amtsstuben waren die Dienstkinder aus den Städten nicht vermerkt. Sie waren weiterhin an ihren eigentlichen Wohnorten gemeldet. „Das ist sehr mühsam, weil das nie offiziell erfasst wurde. Man hat sie einfach übersehen. Ich wäre auch nicht darauf gekommen, wenn ich die schulischen Notizen nicht gehabt hätte“, sagt er. Diese schlechte Quellenlage verkomplizierte MüllerGaebeles Arbeit enorm. Doch durch seine umfassenden Recherchen stieß er letztlich auf weitere Dokumente in Gesetzen, Verfügungen oder eben pädagogischen Publikationen der württembergischen Lehrervereine, allerdings erst aus der Zeit um 1900.
Zu diesem Zeitpunkt dürfte dieses Vorgehen schon viele Jahrzehnte gang und gäbe gewesen sein. MüllerGaebele geht davon aus, dass seit der Gründung des Königreichs Württemberg im Jahr 1806 und der damit verbundenen Einrichtung vieler Landschulen Kinder aus den Städten Oberschwabens von April bis November auf das Land zum Arbeiten gingen. Denn dadurch war es möglich, dass die Kinder auch dort die Schule besuchten – zumindest in der Theorie. In der Praxis blieb für die Schule kaum Zeit. Zu eingespannt waren die Kinder mit dem Hüten des Viehs oder Stall- und Erntearbeiten.
Kinderarbeit im Süden verbreitet
Genaue Zahlen sind dabei schwer zu greifen und kaum in ein Verhältnis zu setzen. Doch hat Müller-Gaebele Hinweise, dass diese Form der Kinderarbeit im südlichen Württemberg doch recht verbreitet gewesen sein muss, gerade bei Kindern aus sozial schwachen Schichten. „Dass aber diese Art Nebenbeschäftigung überaus zahlreich vorkommt, weiß jeder Landlehrer, besonders im Ackerbau treibenden Oberland“, heißt es beispielsweise in dem bereits zitierten Magazin für Pädagogik um 1900. Doch auch andere Quellen aus dem Jahr 1908 untermauern diese These. „Ganz bedeutende Schwierigkeiten bereitet der Umstand, dass im Sommer mehr als 20 Knaben auswärts im Dienst sind“, klagt ein Lehrer aus Ravensburg. Und einer aus Weingarten schreibt: „Eine große Zahl Kinder ist sommers auswärts im Dienst.“
Deutlich klarer geht aus den Quellen derweil hervor, dass die Kinder als billige Arbeitskräfte missbraucht wurden, selbst wenn sie jünger als die erlaubten 14 Jahre waren. Eine Auflistung der Dienstkinder im Haidgau (Bad Wurzach) aus dem Jahr 1905 belegt beispielsweise, dass 19 Dienstkinder – teils einheimisch, teils auswärtig – jünger als 14 Jahre alt waren. Die beiden Jüngsten waren gerade einmal neun. Doch da das auf dem Land kaum bis gar nicht kontrolliert wurde, war es für die Landwirte anscheinend auch kein Problem. Mehr noch: Aufgrund der schlechten Bezahlung und der geringen Ansprüche der Kinder war es ein reizvolles Geschäft. „Wir geben dem Burschen wohl einen Lohn, er verdient es aber auch, denn er versteht die Arbeiten wie ein Knecht. Wir ersparen durch ihn einen Knecht; nur sollte er nicht in die Schule müssen“, wird ein Dienstherr in der „Lehrerzeitschrift Oberschwaben“um 1900 zitiert.
Genau das war im Vergleich zu den Schwabenkindern der entscheidende Unterschied: Die auswärtigen Dienstkinder waren schulpflichtig und mussten im Ort der jeweiligen Dienststätte in den Unterricht. Das verursachte eine Vielzahl an Problemen. Zunächst war die Belastung für die Kinder noch einmal höher, denn die Dienstherren waren kaum bereit, für den Schulbesuch auf Arbeitszeit zu verzichten. Teilweise mussten die Kinder an Tagen mit 16 Stunden Arbeit noch die Schule besuchen. Laut Müller-Gaebele sah ein normaler Schultag für die Dienstkinder damals wie folgt aus: Um 4 Uhr morgens aufstehen, im Stall helfen und das Vieh auf die Weide treiben. Von 10 bis 12 Uhr Schule, von 12 bis 22 Uhr Feldarbeit. Dass diese Kombination den kleinen Körpern zusetzte und dem Lernverhalten nicht zuträglich war, ist wenig verwunderlich.
Außerdem wurde die Schulzeit auf ein Minimum reduziert. Während im Winter in der Heimat an sechs Tagen in der Woche täglich sechs Stunden Unterricht üblich waren, besuchten die auswärtigen Dienstkinder im Sommer gerade einmal vier Stunden pro Woche die Landschulen. Das beklagte auch ein Lehrer in Fronhofen im Jahr 1908: „Schulverhältnisse nicht günstig; sehr viele Schulversäumnisse, ungewöhnlich viele fremde Dienstkinder, die schonungslos ausgebeutet werden.“
Durch die Vernachlässigung des Lernens fielen die Dienstkinder in der Schule immer weiter ab. Dem Stoff in ihrer eigentlichen Schule konnten sie kaum mehr folgen, wurden deshalb und aufgrund ihrer halbjährigen Abwesenheit auch noch sozial an den Rand gedrängt. Sowohl auf dem Land als auch zu Hause wurden sie als Fremde wahrgenommen. „Es ist bezeichnend, dass sie fremde Dienstkinder genannt wurden. Sie waren Außenseiter“, sagt MüllerGaebele. „Auch in der Schule zu Hause galten sie als Außenseiter. Sie waren in jeder Hinsicht benachteiligt.“
Ein Leben im Teufelskreis
So wurde ihnen beinahe jegliche Perspektive und Zukunft geraubt. „In sittlicher Beziehung und in Bezug auf die Schule sind die meisten Dienstkinder wahre Schmerzenskinder. Die Schule hat oft mit unerhörten Schwierigkeiten zu kämpfen. Vernichtet wird nicht nur das, was diese durch Erziehung geschaffen, sondern es wird den Kindern auch oft jede Möglichkeit genommen, ihr Wissen und Können zu vermehren“, schreibt ein Lehrer im Jahr 1900.
Genau solche Lehrer waren es dann auch, die sich für die Dienstkinder einsetzten. Doch hatten sie kaum eine Chance. Die Lobby der Dienstherren war einfach zu stark, da die Politik damals an einer starken Landwirtschaft interessiert war. Zwar gab es einige gesetzliche Regelungen, aber auch immer Schlupflöcher. Außerdem wurden die Gesetze in der Praxis kaum kontrolliert. So gab es beispielsweise Ermäßigungen der Schulzeit, sodass die Dienstkinder nur an zwei Tagen in der Woche für zwei Stunden die Schule besuchen mussten – und das bei einer Sechstagewoche. „Da gab es durch Interessengruppierungen starke landwirtschaftliche Vertreter in der Politik. Da wurde immer wieder Druck gemacht“, erklärt Müller-Gaebele.
Die Guten und die Schlechten
Und auch das gereichte den Dienstkindern wieder zum Nachteil. Da die Schwabenkinder gar nicht zur Schule mussten, wurden sie als Arbeitskräfte favorisiert. „Die Schwabenkinder wurden gegen die Dienstkinder ausgespielt. Die Hofbesitzer haben die Schwabenkinder bevorzugt, weil sie angeblich angepasst, gehorsam und weniger aufmüpfig waren und die Arbeit besser verrichten konnten“, erklärt Müller-Gaebele. „Doch tatsächlich war ihr Nachteil die Schule. Und das hat sich dann auch auf die Vergütung ausgewirkt.“
Damit nicht genug. Die schwere Arbeit und die widrigen Umstände wirkten sich auch charakterlich aus. Meist wurden die Kinder weder von den Eltern, noch von den Dienstherren erzogen. Auf den Höfen waren sie oft mit dem übrigen Dienstpersonal, also Erwachsenen, untergebracht und deshalb gerade in Sachen Sittlichkeit wohl ein wenig abgestumpft. „Sie waren verhaltensauffällig und konnten sich schwer unterordnen. Sie galten als Problemkinder“, erklärt Müller-Gaebele.
Motto: Harte Arbeit schadet nicht
Und sie wurden weiter ausgebeutet. Zeitweise wurde die hohe Arbeitsbelastung gar idealisiert: Es sei pädagogisch wünschenswert, die Kinder an harte Arbeit zu gewöhnen. „Doch das entsprach nicht der Realität. Sie ersetzten landwirtschaftliches Personal. Die mussten richtig schwer arbeiten und wurden ausgebeutet“, sagt Müller-Gaebele.
Dabei handelte es sich vor allem um ein oberschwäbisches Phänomen. „In Nordwürttemberg war man gegen das Dienstkindersystem“, sagt Müller-Gaebele. Das legen auch Zahlen der Verdingkinder in Württemberg aus dem Jahr 1898/99 nahe, auch wenn sie nicht repräsentativ sind. Waren es in evangelischen Gemeinden 993 Verdingkinder, betrug die Zahl in katholischen Gemeinden 3532. Mit 1548 waren drei Siebtel der Kinder in auswärtigen Gemeinden, also sogenannte auswärtige Dienstkinder. „Sie hatten keine Chance, der Armut zu entrinnen. Denn das setzte qualifizierte Bildung voraus“, sagt Müller-Gaebele. „Sie wurden durch die Arbeit um ihre Bildungschance gebracht. Das war ihr Schicksal.“
„Auch in der Schule zu Hause galten sie als Außenseiter. Sie waren in jeder Hinsicht benachteiligt.“
Erich Müller-Gaebele, emeritierter Professor der PH Weingarten