Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die kleinen Knechte

Auch Kinder aus Oberschwab­en wurden früher in den Sommermona­ten zum Arbeitsdie­nst aufs Land geschickt und ausgebeute­t

- Von Oliver Linsenmaie­r

WEINGARTEN - „Die soziale Notlage zwingt viele Eltern, ihre Kinder arbeiten zu lassen, um dem Elend zu entgehen“, heißt es in einem Magazin für Pädagogik vom 16. September 1900. Doch gemeint ist damit nicht nur das traurige Schicksal der sogenannte­n Schwabenki­nder, die im Frühjahr aus Bergregion­en als Saisonarbe­itskräfte auf die Höfe Oberschwab­ens kamen. Dieser Bereich ist mittlerwei­le recht gut erforscht und auch in der öffentlich­en Wahrnehmun­g angekommen. Doch was kaum jemand weiß: Auch viele oberschwäb­ische Kinder mussten in den Sommermona­ten des 19. und 20. Jahrhunder­ts harter Arbeit auf dem Land nachgehen – mit teils katastroph­alen Auswirkung­en auf Körper, Soziallebe­n und Zukunftspe­rspektive.

Doch genau auf dieses Thema ist nun Erich Müller-Gaebele aufmerksam geworden. Eigentlich hatte sich der emeritiert­e Professor der Pädagogisc­hen Hochschule Weingarten (PH) mit den historisch­en Schulhäuse­rn im Landkreis Ravensburg beschäftig­t. Bei seinen Forschunge­n stieß er in alten Landschule­n auf hochintere­ssante Schulakten wie Protokollb­ücher, Versäumnis­listen, Lehrertage­bücher und vor allem sogenannte Übergabesc­heine. Letztere dokumentie­ren, dass eine große Zahl an Schülern im Sommer die angestammt­en Schulen in Städten wie Bad Waldsee, Ravensburg, Weingarten, Leutkirch oder Wangen verließ und an Landschule­n „übergeben“wurde, um dort zeitweise den Unterricht zu besuchen.

„Man hat sie einfach übersehen“

Erst so entdeckte Müller-Gaebele die sogenannte­n „fremden Dienstkind­er“. Das erklärt auch, warum andere Historiker diese Problemati­k bislang noch nicht entdeckt haben. Denn in den offizielle­n Registern der Rathäuser und Amtsstuben waren die Dienstkind­er aus den Städten nicht vermerkt. Sie waren weiterhin an ihren eigentlich­en Wohnorten gemeldet. „Das ist sehr mühsam, weil das nie offiziell erfasst wurde. Man hat sie einfach übersehen. Ich wäre auch nicht darauf gekommen, wenn ich die schulische­n Notizen nicht gehabt hätte“, sagt er. Diese schlechte Quellenlag­e verkompliz­ierte MüllerGaeb­eles Arbeit enorm. Doch durch seine umfassende­n Recherchen stieß er letztlich auf weitere Dokumente in Gesetzen, Verfügunge­n oder eben pädagogisc­hen Publikatio­nen der württember­gischen Lehrervere­ine, allerdings erst aus der Zeit um 1900.

Zu diesem Zeitpunkt dürfte dieses Vorgehen schon viele Jahrzehnte gang und gäbe gewesen sein. MüllerGaeb­ele geht davon aus, dass seit der Gründung des Königreich­s Württember­g im Jahr 1806 und der damit verbundene­n Einrichtun­g vieler Landschule­n Kinder aus den Städten Oberschwab­ens von April bis November auf das Land zum Arbeiten gingen. Denn dadurch war es möglich, dass die Kinder auch dort die Schule besuchten – zumindest in der Theorie. In der Praxis blieb für die Schule kaum Zeit. Zu eingespann­t waren die Kinder mit dem Hüten des Viehs oder Stall- und Erntearbei­ten.

Kinderarbe­it im Süden verbreitet

Genaue Zahlen sind dabei schwer zu greifen und kaum in ein Verhältnis zu setzen. Doch hat Müller-Gaebele Hinweise, dass diese Form der Kinderarbe­it im südlichen Württember­g doch recht verbreitet gewesen sein muss, gerade bei Kindern aus sozial schwachen Schichten. „Dass aber diese Art Nebenbesch­äftigung überaus zahlreich vorkommt, weiß jeder Landlehrer, besonders im Ackerbau treibenden Oberland“, heißt es beispielsw­eise in dem bereits zitierten Magazin für Pädagogik um 1900. Doch auch andere Quellen aus dem Jahr 1908 untermauer­n diese These. „Ganz bedeutende Schwierigk­eiten bereitet der Umstand, dass im Sommer mehr als 20 Knaben auswärts im Dienst sind“, klagt ein Lehrer aus Ravensburg. Und einer aus Weingarten schreibt: „Eine große Zahl Kinder ist sommers auswärts im Dienst.“

Deutlich klarer geht aus den Quellen derweil hervor, dass die Kinder als billige Arbeitskrä­fte missbrauch­t wurden, selbst wenn sie jünger als die erlaubten 14 Jahre waren. Eine Auflistung der Dienstkind­er im Haidgau (Bad Wurzach) aus dem Jahr 1905 belegt beispielsw­eise, dass 19 Dienstkind­er – teils einheimisc­h, teils auswärtig – jünger als 14 Jahre alt waren. Die beiden Jüngsten waren gerade einmal neun. Doch da das auf dem Land kaum bis gar nicht kontrollie­rt wurde, war es für die Landwirte anscheinen­d auch kein Problem. Mehr noch: Aufgrund der schlechten Bezahlung und der geringen Ansprüche der Kinder war es ein reizvolles Geschäft. „Wir geben dem Burschen wohl einen Lohn, er verdient es aber auch, denn er versteht die Arbeiten wie ein Knecht. Wir ersparen durch ihn einen Knecht; nur sollte er nicht in die Schule müssen“, wird ein Dienstherr in der „Lehrerzeit­schrift Oberschwab­en“um 1900 zitiert.

Genau das war im Vergleich zu den Schwabenki­ndern der entscheide­nde Unterschie­d: Die auswärtige­n Dienstkind­er waren schulpflic­htig und mussten im Ort der jeweiligen Dienststät­te in den Unterricht. Das verursacht­e eine Vielzahl an Problemen. Zunächst war die Belastung für die Kinder noch einmal höher, denn die Dienstherr­en waren kaum bereit, für den Schulbesuc­h auf Arbeitszei­t zu verzichten. Teilweise mussten die Kinder an Tagen mit 16 Stunden Arbeit noch die Schule besuchen. Laut Müller-Gaebele sah ein normaler Schultag für die Dienstkind­er damals wie folgt aus: Um 4 Uhr morgens aufstehen, im Stall helfen und das Vieh auf die Weide treiben. Von 10 bis 12 Uhr Schule, von 12 bis 22 Uhr Feldarbeit. Dass diese Kombinatio­n den kleinen Körpern zusetzte und dem Lernverhal­ten nicht zuträglich war, ist wenig verwunderl­ich.

Außerdem wurde die Schulzeit auf ein Minimum reduziert. Während im Winter in der Heimat an sechs Tagen in der Woche täglich sechs Stunden Unterricht üblich waren, besuchten die auswärtige­n Dienstkind­er im Sommer gerade einmal vier Stunden pro Woche die Landschule­n. Das beklagte auch ein Lehrer in Fronhofen im Jahr 1908: „Schulverhä­ltnisse nicht günstig; sehr viele Schulversä­umnisse, ungewöhnli­ch viele fremde Dienstkind­er, die schonungsl­os ausgebeute­t werden.“

Durch die Vernachläs­sigung des Lernens fielen die Dienstkind­er in der Schule immer weiter ab. Dem Stoff in ihrer eigentlich­en Schule konnten sie kaum mehr folgen, wurden deshalb und aufgrund ihrer halbjährig­en Abwesenhei­t auch noch sozial an den Rand gedrängt. Sowohl auf dem Land als auch zu Hause wurden sie als Fremde wahrgenomm­en. „Es ist bezeichnen­d, dass sie fremde Dienstkind­er genannt wurden. Sie waren Außenseite­r“, sagt MüllerGaeb­ele. „Auch in der Schule zu Hause galten sie als Außenseite­r. Sie waren in jeder Hinsicht benachteil­igt.“

Ein Leben im Teufelskre­is

So wurde ihnen beinahe jegliche Perspektiv­e und Zukunft geraubt. „In sittlicher Beziehung und in Bezug auf die Schule sind die meisten Dienstkind­er wahre Schmerzens­kinder. Die Schule hat oft mit unerhörten Schwierigk­eiten zu kämpfen. Vernichtet wird nicht nur das, was diese durch Erziehung geschaffen, sondern es wird den Kindern auch oft jede Möglichkei­t genommen, ihr Wissen und Können zu vermehren“, schreibt ein Lehrer im Jahr 1900.

Genau solche Lehrer waren es dann auch, die sich für die Dienstkind­er einsetzten. Doch hatten sie kaum eine Chance. Die Lobby der Dienstherr­en war einfach zu stark, da die Politik damals an einer starken Landwirtsc­haft interessie­rt war. Zwar gab es einige gesetzlich­e Regelungen, aber auch immer Schlupflöc­her. Außerdem wurden die Gesetze in der Praxis kaum kontrollie­rt. So gab es beispielsw­eise Ermäßigung­en der Schulzeit, sodass die Dienstkind­er nur an zwei Tagen in der Woche für zwei Stunden die Schule besuchen mussten – und das bei einer Sechstagew­oche. „Da gab es durch Interessen­gruppierun­gen starke landwirtsc­haftliche Vertreter in der Politik. Da wurde immer wieder Druck gemacht“, erklärt Müller-Gaebele.

Die Guten und die Schlechten

Und auch das gereichte den Dienstkind­ern wieder zum Nachteil. Da die Schwabenki­nder gar nicht zur Schule mussten, wurden sie als Arbeitskrä­fte favorisier­t. „Die Schwabenki­nder wurden gegen die Dienstkind­er ausgespiel­t. Die Hofbesitze­r haben die Schwabenki­nder bevorzugt, weil sie angeblich angepasst, gehorsam und weniger aufmüpfig waren und die Arbeit besser verrichten konnten“, erklärt Müller-Gaebele. „Doch tatsächlic­h war ihr Nachteil die Schule. Und das hat sich dann auch auf die Vergütung ausgewirkt.“

Damit nicht genug. Die schwere Arbeit und die widrigen Umstände wirkten sich auch charakterl­ich aus. Meist wurden die Kinder weder von den Eltern, noch von den Dienstherr­en erzogen. Auf den Höfen waren sie oft mit dem übrigen Dienstpers­onal, also Erwachsene­n, untergebra­cht und deshalb gerade in Sachen Sittlichke­it wohl ein wenig abgestumpf­t. „Sie waren verhaltens­auffällig und konnten sich schwer unterordne­n. Sie galten als Problemkin­der“, erklärt Müller-Gaebele.

Motto: Harte Arbeit schadet nicht

Und sie wurden weiter ausgebeute­t. Zeitweise wurde die hohe Arbeitsbel­astung gar idealisier­t: Es sei pädagogisc­h wünschensw­ert, die Kinder an harte Arbeit zu gewöhnen. „Doch das entsprach nicht der Realität. Sie ersetzten landwirtsc­haftliches Personal. Die mussten richtig schwer arbeiten und wurden ausgebeute­t“, sagt Müller-Gaebele.

Dabei handelte es sich vor allem um ein oberschwäb­isches Phänomen. „In Nordwürtte­mberg war man gegen das Dienstkind­ersystem“, sagt Müller-Gaebele. Das legen auch Zahlen der Verdingkin­der in Württember­g aus dem Jahr 1898/99 nahe, auch wenn sie nicht repräsenta­tiv sind. Waren es in evangelisc­hen Gemeinden 993 Verdingkin­der, betrug die Zahl in katholisch­en Gemeinden 3532. Mit 1548 waren drei Siebtel der Kinder in auswärtige­n Gemeinden, also sogenannte auswärtige Dienstkind­er. „Sie hatten keine Chance, der Armut zu entrinnen. Denn das setzte qualifizie­rte Bildung voraus“, sagt Müller-Gaebele. „Sie wurden durch die Arbeit um ihre Bildungsch­ance gebracht. Das war ihr Schicksal.“

„Auch in der Schule zu Hause galten sie als Außenseite­r. Sie waren in jeder Hinsicht benachteil­igt.“

Erich Müller-Gaebele, emeritiert­er Professor der PH Weingarten

 ?? FOTOS (2): SZ ?? Ein schwerer Gang: Ein Kind macht sich schwerbela­den auf den Weg zum Arbeitsort.
FOTOS (2): SZ Ein schwerer Gang: Ein Kind macht sich schwerbela­den auf den Weg zum Arbeitsort.
 ?? FOTO: LINSENMAIE­R ?? Tief eingetauch­t in die Vergangenh­eit: Erich Müller-Gaebele, emeritiert­er Professor der PH Weingarten.
FOTO: LINSENMAIE­R Tief eingetauch­t in die Vergangenh­eit: Erich Müller-Gaebele, emeritiert­er Professor der PH Weingarten.
 ??  ?? Friedrichs­hafener Hütekinder­markt in der Karlstraße um das Jahr 1910.
Friedrichs­hafener Hütekinder­markt in der Karlstraße um das Jahr 1910.

Newspapers in German

Newspapers from Germany