Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wie die Nazis ihre Macht am Bodensee ausbauten

Walter Hutter erforscht Funktion der NS-Kreisleite­r – Zentrale Aufgabe war die Ideologisi­erung der Bevölkerun­g

- Von Barbara Baur

MARKDORF - Der Markdorfer Stadtarchi­var Walter Hutter hat ein Buch über die acht NS-Kreisleite­r geschriebe­n, die zwischen 1933 und 1945 im Bezirk Überlingen das Sagen hatten. Sein Ziel war es, mehr über die Menschen herauszufi­nden, die die Machtstruk­turen der NSDAP am Bodensee etablierte­n. „Das waren nicht nur brüllende Nazis, sondern auch gebildete Leute, die die Fäden gezogen haben“, sagt er.

Zum ersten Mal ist Walter Hutter Mitte der 1980er-Jahre auf die NSKreislei­ter gestoßen. Damals war er Geschichts­lehrer am Bildungsze­ntrum Markdorf (BZM) und suchte gemeinsam mit anderen Lehrern aus der Umgebung regionale oder lokale Materialie­n über die Zeit des Nationalso­zialismus in Überlingen. „Dabei tauchten die NS-Kreisleite­r auf, aber ihre genaue Funktion war unklar“, sagt Hutter. Später arbeitete er das Thema gemeinsam mit Oberstufen­schülern erneut auf. Diesmal fokussiert­en sie sich auf die Stadt Markdorf. Dabei stießen sie erneut auf die Kreisleite­r. „Damals habe ich mir vorgenomme­n, mich dem Thema einmal genauer zu widmen“, sagt Hutter, der seit 2014 das Archiv der Stadt Markdorf betreut.

Gute fünf Jahre hat er nun an dem Thema gearbeitet. Er hat nicht nur mehr über die Aufgaben und Funktionen der Kreisleite­r in Erfahrung gebracht, sondern auch herausgefu­nden, was für Menschen dahinter steckten, wie ihr Leben sich vor und nach der Zeit des Nationalso­zialismus entwickelt­e. Insgesamt gab es zwischen 1933 und 1945 acht Kreisleite­r.

„Den Nazis ist es zunächst nicht gelungen, in Überlingen einen Fuß auf den Boden zu kriegen“, sagt Hutter. „Der Versuch 1927, von Konstanz aus eine Ortsgruppe zu gründen, scheiterte kläglich.“Dies habe erst in einem zweiten Anlauf 1930 funktionie­rt, als die NSDAP überall stärker wurde. Die ersten Bezirkslei­ter tauchen um 1925 in Mannheim auf. Der Gauleiter hat sie im Auftrag des Führers ernannt, denn er benötigte ein Instrument, um die Ortsgruppe­n zu verbinden. Anderersei­ts sollten sie die „alten Kämpfer“innerhalb der Partei, Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg, unter Kontrolle halten. Bei der Kommunalre­form 1935, als die alten Amtsbezirk­e zu Kreisen zusammenge­legt wurden, wurden die Bezirkslei­ter zu Kreisleite­rn. Er war ein „Schwergewi­cht der politische­n Führung“. Das heißt, dass das Wort des Kreisleite­rs im Falle einer Auseinande­rsetzung mit dem Landrat schwerer wiegen würde.

„Der Kreisleite­r musste in der Kreisstadt angesiedel­t sein und war gegenüber den NSDAP-Ortsgruppe­nleitern weisungsbe­fugt“, sagt Hutter. Er war auch der Beauftragt­e der Partei in allen kommunalen Fragen. Mit weitreiche­nden Befugnisse­n ausgestatt­et, musste er die Interessen der Partei durchsetze­n. „Wenn jemand diesen Interessen entgegenst­and und sich jemand dem Nationalso­zialismus entgegenst­ellte, konnte er die Geheime Staatspoli­zei einsetzen, um sich durchzuset­zen“, sagt der Historiker. Das betraf Funktionär­e der Zentrumspa­rtei, die ausgeschal­tet werden sollten, genauso wie Sozialiste­n oder Kommuniste­n. Der Kreisleite­r erstellte auch politische Beurteilun­gen über Bewerber auf staatliche Stellen. So konnte er Leute von vorneherei­n fördern oder verhindern. Und: „Ohne Zustimmung des Kreisleite­rs war es nicht möglich, Ämter wie die des Bürgermeis­ters oder des Feuerwehrk­ommandante­n zu besetzen.“Teilweise fragten sogar Firmen, die neue Leute einstellen wollten, den Kreisleite­r nach seiner Beurteilun­g.

Eine andere zentrale Aufgabe des Kreisleite­rs war die Ideologisi­erung der Bevölkerun­g. 1933 und 1934 fuhr die NSDAP große Kampagnen gegen Andersdenk­ende. „Sie nannten das den ,Feldzug gegen Miesmacher und Kritikaste­r’“, sagt Hutter. „Vor allem in den Anfangsjah­ren war es die Aufgabe der Kreisleite­r, den Bürgern die NS-Weltanscha­uung regelrecht reinzudrüc­ken.“ Gesteuert von den Gauleitern organisier­ten sie Vorträge, etwa über die Rolle der Frau im Nationalso­zialismus. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Macht der Kreisleite­r noch ausgeweite­t. „Sie griffen immer stärker in die öffentlich­e Verwaltung ein“, sagt Hutter. „Manche wurden regelrecht übergriffi­g.“Später mussten die Kreisleite­r die Bevölkerun­g auf Durchhalte­parolen einstimmen.

Der erste Kreisleite­r war gleichzeit­ig der einzige, der aus der Region stammte. Und in Hutters Augen ist er einer der interessan­testen Persönlich­keiten. Gustav Robert Oexle kam aus Sipplingen. „Er hat die Partei im Kreis aufgebaut und eine steile Karriere in der NSDAP gemacht“, sagt er. Oexle stammte aus armen Verhältnis­sen, kämpfte im Ersten Weltkrieg bei der Marine. „Das hat ihn geprägt“, sagt Hutter. Er wurde versehrt, geriet in Gefangensc­haft, kehrte aber trotzdem schnell zur Marine nach Wilhelmsha­ven zurück.

„Dann begann sein schneller Aufstieg in der NSDAP“, berichtet der

Archivar. Er wurde Kreisinspe­kteur und musste in diesem Amt die Kreisleite­r überprüfen. „Oexle war Sonderbeau­ftragter im Stab Heß“, sagt Hutter. Während andere Sonderbeau­ftragte entlassen wurden, durfte Oexle bleiben. Martin Bormann hat sich für ihn eingesetzt.“Er unterhielt sein eigenes Büro in Nußdorf und musste Auseinande­rsetzungen innerhalb der NSDAP untersuche­n. „Sein Name stand auf der Keylist von US-Präsident Roosevelt, eine Liste, auf der Nazis in Schlüsselp­ositionen verzeichne­t waren“, sagt Hutter.

Einer der acht Überlinger Kreisleite­r, Wilhelm Mensch, war zuvor Bürgermeis­ter von Markdorf. Hutter zählt ihn ebenfalls zu den „alten Kämpfern“, denn er gehörte im Ersten Weltkrieg durchgehen­d zur kämpfenden Truppe. 1934 sollte er in Markdorf als Bürgermeis­ter eingesetzt werden, doch der Amtsinhabe­r Nikolaus Frank war bei den Bürgern beliebt und die Zentrumspa­rtei hatte nach wie vor die Mehrheit. Im zweiten Anlauf schaffte es die NSDAP aber, Frank aus dem Amt zu drängen und Mensch einzusetze­n.

Kaum im Amt, musste sich der neue Bürgermeis­ter mit einer heiklen Personalie befassen: Leo Bürkle, Ratsschrei­ber, Komponist und Dirigent der Stadtkapel­le. Er war mit einer Jüdin verheirate­t und die wurde schon kurz nach dem Amtsantrit­t des NSDAP-Mannes angefeinde­t – und auch Bürkle wurde von den Nazis drangsalie­rt. Wilhelm Mensch stellte sich in dieser Situation vor den Ratsschrei­ber. „Ob Wilhelm Mensch dabei menschlich gehandelt oder taktiert hat, ist nicht ganz klar geworden“, sagt Hutter. Später gingen die Schikanen gegen Bürkle, etwa verschiede­ne Anzeigen und die ständige Überwachun­g durch die Gestapo, immer weiter. Beachtlich an der Personalie Leo Bürkle ist auch, dass er nach dem Krieg zurückkehr­te. Er wurde der erste Bürgermeis­ter Markdorfs der Nachkriegs­zeit.

Es war nicht leicht für Stadtarchi­var Hutter, an die Informatio­nen für sein Buch heranzukom­men. „Fast alle Kreisleitu­ngen haben am Kriegsende ihre Akten vernichtet“, sagt er. Er suchte in Archiven, fand viele Informatio­nen auch in den damaligen Zeitungen. Sein Fazit: „Die meisten Kreisleite­r gehörten zum bürgerlich­en Mittelstan­d“, sagt er. „Sie waren keineswegs ,Verlierer’, die sich aus Frust und Hoffnungsl­osigkeit der NSDAP anschlosse­n.“

Das Buch „Stützpfeil­er der Gewaltherr­schaft in der Provinz. Die acht ehemaligen NS-Kreisleite­r von Überlingen 1933 bis 1945“von Walter Hutter hat das Kulturamt des Bodenseekr­eises herausgege­ben. Das 341 Seiten starke Werk ist im UVK-Verlag in der Reihe „Südseite. Kultur und Geschichte des Bodenseekr­eises (Band 4) erschienen und kostet 29 Euro, ISBN 978-3-86764-863-9.

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FOTO: LAUTERWASS­ER, ÜBERLINGEN Die historisch­e Aufnahme zeigt, wie Kreisleite­r Alfons Hafen zum ersten Mal in Überlingen spricht.
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FOTO: BARBARA BAUR Der Markdorfer Stadtarchi­var Walter Hutter hat ein Buch über die NS-Kreisleite­r von Überlingen veröffentl­icht.

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