Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Jünger war ein ,rechter’ Intellektu­eller“

Ein Gespräch mit dem Germaniste­n Helmuth Kiesel über den umstritten­en Autor, der vor 125 Jahren geboren wurde

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HEIDELBERG (KNA) - Er gehört zu den umstritten­sten Figuren der neueren deutschen Literaturg­eschichte: Ernst Jünger, geboren vor 125 Jahren, am 29. März 1895. Im Gespräch mit Joachim Heinz beleuchtet der Heidelberg­er Germanisti­kProfessor und Jünger-Biograf Helmuth Kiesel Stationen aus dem langen Leben des „Eremiten von Wilflingen“, der 1998 im Alter von 102 Jahren starb.

Herr Professor Kiesel, Ernst Jünger hatte viele literarisc­he Vorbilder – von Ariost bis Rimbaud. Aber ist er selbst Vorbild für jüngere Schriftste­ller geworden?

Bis in die 1980er-Jahre hinein bekannte sich eigentlich kein Autor als Jünger-Adept. Das hätte ihm in jeder Hinsicht geschadet.

Warum?

An Jünger, der auch im Zweiten Weltkrieg als Soldat aktiv war, schieden sich die Geister. Thomas Mann nannte ihn einen „Schinder“und Wegbereite­r des NS-Regimes.

Hat Mann recht?

Über die Untaten der Nationalso­zialisten hat Jünger sinngemäß geschriebe­n, es handle sich um Verbrechen, die den Kosmos gegen die Deutschen aufbrächte­n. Solche Worte lassen an Schärfe nichts zu wünschen übrig und deuten auf eine extreme Distanz Jüngers gegenüber dem Nationalso­zialismus hin.

Wie erklären Sie sich, dass Jünger heute im äußersten rechten Spektrum als eine Art Ikone verehrt wird?

Das wird immer wieder behauptet – aber ich sehe nicht, dass Jünger etwa von der „Identitäre­n Bewegung“oder AfD-Politikern permanent zitiert wird, auch nicht von einem Björn Höcke oder einem Götz Kubitschek.

Aber die Attitüde des über den Dingen stehenden, national gesinnten Beobachter­s scheint doch hier und da durchzusch­immern.

Weder für Höcke noch für den Verleger Kubitschek kommt Jünger als Vorbild infrage. Jünger war weder ein Demagoge, der politische Versammlun­gen mit simplifizi­erenden und aufpeitsch­enden Formeln zum Johlen gebracht hätte, noch war er ein Aktionist, der Skandale provoziere­n wollte. Jünger war ein „rechter“Intellektu­eller, der in seiner politische­n Phase ausschließ­lich durch seine gedanklich und stilistisc­h anspruchsv­ollen Essays wirken wollte.

Kritiker werfen Jünger antisemiti­sche Tendenzen vor.

Kein Antisemit kann sich auf Jünger stützen, es sei denn, er würde den Aufsatz Jüngers in den „Süddeutsch­en Monatsheft­en“herausgrei­fen.

Jüngers im Herbst 1930 veröffentl­ichter Text trägt den Titel „Über Nationalis­mus und Judenfrage“.

Darin schlägt der Autor zweifellos fatale Töne an. Man liest das heute mit Entsetzen. Aber zugleich betont Jünger ausdrückli­ch, dass die Juden ein Recht haben, in Deutschlan­d zu leben – solange sie sich als Juden bekennen und begreifen.

Jüngers berühmtest­es Werk spielt im Ersten Weltkrieg: „In Stahlgewit­tern“. Stilistisc­h auf höchstem Niveau, aber mit einem Ich-Erzähler als Hauptfigur, der angesichts des Grauens, das ihn umgibt, keine Entwicklun­g durchmacht.

Von den „Stahlgewit­tern“liegen uns sieben Fassungen vor. Innerhalb der jeweiligen Fassung finden wir tatsächlic­h keine Entwicklun­g. Ein junger Mann zieht in den Krieg, wild entschloss­en, ein großes Abenteuer zu erleben. Er stellt fest, dass er das alles aushalten kann: Granaten schlagen ein, um ihn herum stöhnen Verwundete, liegen Tote. Das lässt ihn kalt. Er verkraftet das alles. Auch an seiner grundsätzl­ichen Einstellun­g zum Krieg ändert sich nichts: Er ist nun einmal da, muss heldenhaft geführt und gewonnen werden.

Wenn Sie die einzelnen Fassungen miteinande­r vergleiche­n - die letzte stammt aus dem Jahr 1978 – können Sie sehr wohl eine Entwicklun­g beim Autor beobachten.

Zum Beispiel?

Beim Rückzug von der SommeSchla­cht Anfang 1917 hinterließ­en die Deutschen verbrannte Erde. In Jüngers Kriegstage­büchern, die den Stoff für die Erzählung lieferten, erleben wir einen staunenden Soldaten. Er hält nicht für möglich, dass die Menschen so wüten können. In der ersten Fassung der Stahlgewit­ter erweist er sich als strammer Apologet und preußische­r Krieger: Das alles ist abscheulic­h, aber wenn es militärisc­h geboten ist, wird das erledigt. In der vierten Fassung 1934 streicht er die Stelle, nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es eine Passage, in der Empörung zum Ausdruck kommt. Inzwischen, so hält der Autor fest, habe er viele Gelegenhei­ten gehabt, solche Zerstörung­en zu sehen.

Etwas Rätselhaft­es umgibt auch Jüngers Verhältnis zur Religion. Der Protestant verehrte den Philosophe­n Friedrich Nietzsche und trat in hohem Alter zur katholisch­en Kirche über. Wie passt das zusammen?

Der Philosoph beeindruck­te Ernst Jünger unter anderem durch dessen Pathos der Distanz. Den Nihilismus Nietzsches – „Gott ist tot“– hat er übernommen, ohne ihn hinzunehme­n.

Wie kam er von dort zum Katholizis­mus?

Für die Suche nach Sinn gibt es Hilfsmitte­l, den Mythos und das mythische Denken, das allen Religionen zu eigen ist. Im Zweiten Weltkrieg las Jünger in der Bibel, studierte die Kirchenvät­er – und den radikalen Katholiken Leon Bloy. Später wird auch die katholisch­e Umgebung in Wilflingen eine Rolle gespielt haben.

Er wohnte fast 50 Jahre bis zu seinem Tod im dortigen Stauffenbe­rgschen Forsthaus.

Die Stauffenbe­rgs sind eine dezidiert katholisch­e Familie. Zu seiner Frau soll Jünger gesagt haben, er habe sich katholisch taufen lassen, weil das hier alle seien.

Ordnung muss sein.

Die Entscheidu­ng entspricht dem Jüngersche­n Sinn für die Einbindung in größere Zusammenhä­nge. Der letzte Beweggrund für diesen Schritt war meiner Ansicht nach die Faszinatio­n für die dogmatisch­e Geschlosse­nheit und die liturgisch­e Ästhetik der katholisch­en Kirche.

die 2013 bei Klett Cotta erschienen ist.

Kiesel gehört dem wissenscha­ftlichen Beirat der Ernst und Friedrich Georg Jünger Gesellscha­ft an, die ihren Sitz in Wilflingen hat. Dort, im Alten Forsthaus, lebte Ernst Jünger von 1951 an bis zu seinem Tod 1998.

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FOTO: RUPERT LESER
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