Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Zerreißprobe für Europa
Der viel beschworene deutschfranzösische Motor scheint stotternd wieder anzuspringen. Per Twitter stellte Finanzminister Olaf Scholz klar, dass er gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire an einer Lösung im Finanzstreit arbeite. „Wiederaufbaufonds“heißt das Zauberwort. Aber ähnlich wie bei Präsident Macrons Lieblingsprojekt, dem eigenen Budget für die Eurozone, wird auch diesmal Umfang und Art der Finanzierung nicht ausbuchstabiert, um die zerbrechliche Harmonie der beiden Nachbarn nicht gleich wieder aufs Spiel zu setzen.
Das Misstrauen gegen das als einschüchternd tüchtig, aber auch als herzlos und zwanghaft sparsam erlebte Deutschland ist seit Gründung der EU nie ganz verstummt. Mit ihrer als großherzig empfundenen Flüchtlingspolitik konnte Angela Merkel den Imageschaden halbwegs wieder wettmachen, den Sparminister Wolfgang Schäuble in der Finanzkrise angerichtet hatte. Doch während der Pandemie nimmt der Argwohn unserer Nachbarn wieder zu.
Deutschland hat bisher gemessen an der Zahl der positiv getesteten Patienten eine geringe Todesrate zu verzeichnen. Das erzeugt Bewunderung für unser Gesundheitssystem, verfestigt aber gleichzeitig das Klischee vom pedantischen und einzelgängerischen Musterschüler. Vom anfänglichen Exportverbot für Schutzausrüstung bis zur kategorischen Ablehnung von Corona-Bonds wird Deutschland als ein Gemeinwesen wahrgenommen, das aus seiner privilegierten Lage heraus nicht großzügig, sondern vielmehr kleinkariert und auf den eigenen Vorteil bedacht handelt.
Wenn ab 1. Juli Deutschland für sechs Monate den Vorsitz im Rat der Regierungen führt, werden Europa und die Welt mehr noch als jetzt darauf schauen, wie solidarisch sich die Deutschen gegenüber ihren Nachbarn zeigen. Gleichzeitig wird der Bundeshaushalt schon durch die Bewältigung der nationalen CoronaFolgen stark strapaziert sein. Das könnte zu einer Zerreißprobe führen, die am Ende die europäische Integration als Ganzes infrage stellt.
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