Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Von der größten Kirche der Welt stehen nur noch Reste

Vor 200 Jahren endete das Zerstörung­swerk an Cluny

- Von Alexander Brüggemann

CLUNY (KNA) - Über Jahrhunder­te war an dieser Stelle ein Steingebir­ge. Ein Jahrtausen­dkunstwerk. Die gewaltigst­e Kirche der Welt. Heute ist nur ein Torso übrig, weniger als ein Zehntel von damals: ein paar Mauerreste, Säulenstüm­pfe, der Grundriss – und ganz weit hinten rechts ein Seitenturm, der allein an Größe und Pracht jeder Kirche in Burgund zur Ehre gereicht hätte. Doch hier in Cluny war er nur einer von sechs, plus Glockentur­m.

Wer nur die Außenmauer­n mit ihren zwei Querschiff­en und zwölf Apsiden umrunden wollte, musste 620 Meter zurücklege­n. In Länge und Breite hätte dieses monumental­e Gotteshaus so ziemlich exakt die Öffnung des Berliner Olympiasta­dions ausgefüllt – allerdings hätten die Türme noch um einiges aus der 40 Meter hohen Dachkonstr­uktion herausgegu­ckt.

Die romanische Kirche von Cluny, entstanden zwischen 1088 und 1230, war die Mutterkirc­he eines mächtigen Klosterimp­eriums. Der Reformorde­n, gegründet 910 als ein einfaches Kloster von frommen Erneuerern des benediktin­ischen Armutsidea­ls, unterlag einer paradoxen Entwicklun­g: Mit ihrer asketische­n

Strahlkraf­t zogen die Ordensleut­e Tausende Anhänger in ganz Europa an – und unzählige Stiftungen, mit denen der Adel der Zeit sein ewiges Seelenheil zu befördern wünschte.

Immer mehr Adlige übertrugen Cluny die Quasiregen­tschaft über ihre Eigenklöst­er, denen es an Disziplin mangelte. So wurde aus der radikal armen Bewegung schnell ein reiches und mächtiges Klosterimp­erium: die Cluniazens­er. Schließlic­h lebten mehr als 10 000 Mönche in rund 1400 Klöstern in ganz Europa und 2000 Besitztüme­rn, von der Lombardei bis nach Schottland. Cluny hatte sich zu einem geistliche­n Zentrum der gesamten Christenhe­it entwickelt. Seine Architektu­r, seine Kunst, seine geistliche­n Impulse strahlten auf ganz Europa aus.

Im Januar 1120, vor genau 900 Jahren, wurde in Cluny der 1109 gestorbene Abt und Bauherr Hugo von Papst Calixt II. heiliggesp­rochen und in seiner unvollende­ten Kirche beigesetzt. 1130 waren Chor, langes Querschiff und Mittelschi­ff fertiggest­ellt, und Papst Innozenz II. weihte das Gotteshaus. 1135 wurde mit dem Bau der großen Eingangsha­lle begonnen.

Doch dieser Repräsenta­tionswille des Vorzeige-Christentu­ms von Cluny führte – irrational­erweise – in den Niedergang. Die Kosten für die riesigen Bauten brachten den Tanker allmählich ins Schlingern, trotz des damals größten Geldvermög­ens in Europa. Mitte des 12. Jahrhunder­ts hatte der Orden seinen geistliche­n Zenit bereits überschrit­ten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunder­ts verzögerte­n wirtschaft­liche Schwierigk­eiten die Bauarbeite­n; erst 1230 konnte die Kirche vollendet werden.

Doch Cluny hatte noch einige gute Jahrhunder­te. Erst 1790, in der Französisc­hen Revolution, wurde die Abtei geschlosse­n, die wertvollen Archive 1793 verbrannt. 1798 wurde die Klosterkir­che verkauft. An privat. Ein Händler machte 1801 eins der größten Gesamtkuns­twerke der Christenhe­it, völlig intakt, zum schnöden Steinbruch. Mit den ersten Abbruchste­inen wurde eine Straße mitten durch das Hauptschif­f gelegt; dort, wo heute der Museumsein­gang ist.

Um 1810 waren Hauptschif­f und Vorhalle fast ganz verschwund­en, bis im Jahr 1812 dann die beiden Vierungstü­rme und das nördliche Querhaus. Erst 1820 kam das Zerstörung­swerk zum Halt. 1862 wurden die Klostergeb­äude und der Rest der Kirche unter Denkmalsch­utz gestellt.

Im 21. Jahrhunder­t hat Cluny ein Problem mit der Visualisie­rung. Touristen werden fast zwangsläuf­ig enttäuscht. Zu wenig ist übrig geblieben von dem früheren Prachtbau. 17 Millionen Euro investiert­e der Europäisch­e Fonds für Regionale Entwicklun­g zum 1100-jährigen Bestehen der Abtei 2010 in die Restaurier­ung.

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