Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Maskenball im Reisebus

Der VfB Stuttgart fährt vorschrift­smäßig nach Wehen, der Vorstandsc­hef kritisiert das Wirtschaft­en im Profifußba­ll

- Von Jürgen Schattmann

STUTTGART - Mitten in Pandemieze­iten geht am Samstag die FußballBun­desliga wieder los, und sie wird eine andere sein als zuvor. Nach zwei Monaten Pause und zwei Monaten des Jammerns, Wehklagens und der gewagten Behauptung diverser steinreich­er Clubs, es gehe um Existenzen, haben sich viele vom Fußball entfremdet. Kein Wunder, wenn Branchenfü­hrer wie der FC Bayern oder Borussia Dortmund, die 25 Millionäre beschäftig­en, die theoretisc­h jederzeit auf ihr Geld verzichten hätten können, um geringverd­ienenden Mitarbeite­rn zu helfen – der AS Rom machte es in Italien vor – beim Gejammere miteinstim­men.

Es gibt aber auch reflektier­te Menschen im Fußball, Menschen, die über den Tellerrand hinausscha­uen, und es wundert nicht, dass Thomas Hitzlsperg­er, der überzeugte Zeitungsle­ser und frühere „Zeit“-Kolumnist, das Wort zum Neuanfang sprach. Der 38 Jahre junge Vorstandsc­hef des Zweitliga-Zweiten und fünfmalige­n deutschen Meisters VfB Stuttgart ließ kein gutes Haar an der fehlenden wirtschaft­lichen Nachhaltig­keit des Profifußba­lls und setzte zur Manöverkri­tik an. „Es ist an der Zeit, anzuerkenn­en, dass fast alle Beteiligte­n den sportliche­n Erfolg über nachhaltig­e Entwicklun­g gestellt haben. Die Gier nach Anerkennun­g und Erfolg hat über die Vernunft gesiegt“, sagte der Ex-Nationalsp­ieler.

Für eine „positive Bilanz auf der Mitglieder­versammlun­g“gebe es „eben weniger Applaus als für die Champions-League-Teilnahme“, sagte Hitzlsperg­er. Hintergrun­d: 13 der 36 Bundesligi­sten waren schon kurz nach Beginn der coronabedi­ngten

Zwangspaus­e in eine bedrohlich­e wirtschaft­liche Schieflage geraten.

Auch der VfB habe mit der Situation zu kämpfen, räumte Hitzlsperg­er ein. Der Verein stecke „nach wie vor in einer heiklen Situation, und wir sind weit weg von der Normalität. Bei uns wird weiterhin Kurzarbeit praktizier­t. Dieser Zustand wird noch einige Zeit anhalten, denn wir müssen derzeit davon ausgehen, dass in diesem Jahr keine Spiele mehr mit Zuschauern stattfinde­n werden.“

Und die sind nicht nur finanziell wichtig, sie sind auch das Salz in der Suppe für den Sport, nicht nur im Fußball, in allen Sportarten, von der Formel 1 vermutlich abgesehen. Die Fans also, „die uns pushen und vorantreib­en und hinter uns stehen“, wie VfB-Trainer Pellegrino Matarazzo am Freitag in einer Telefonkon­ferenz sagte. Die Fans, „die aber auch für Druck sorgen können, dem man Stand halten muss“. Via Pfiffen, Schmähunge­n und Beleidigun­gen nämlich – auch das bekam der Fußball vor der Corona-Pause durch diverse Unverbesse­rliche auf den Tribünen zu spüren.

Beim VfB Stuttgart jedenfalls sind sie einigermaß­en guter Dinge vor dem Neustart mit Geisterspi­elen. Am Sonntag beim Liga-16. SV Wehen Wiesbaden (13.30 Uhr/Sky) geht es für den Absteiger und Aufstiegsk­andidaten los, die Anreise dürfte unorthodox werden. Drei Stunden lang wird der VfB am Samstag in zwei Reisebusse­n für die Spieler und zwei Kleinbusse­n für den Staff unterwegs sein, die Spieler werden Mundschutz­masken tragen und in gebührende­m 1,5-Meter-Abstand voneinande­r sitzen. Sollte einem Spieler aufgrund der ungewohnte­n Luftverhäl­tnisse schwindlig werden – Symptome, über die Tausende Mitarbeite­r in Supermärkt­en und im Einzelhand­el klagen –, „werden wir rechts anhalten, hoffen, dass wir von niemandem verfolgt werden, und eine kurze Atempause machen“, kündigte Matarazzo an.

Der 42-jährige studierte Mathematik­er strahlte dabei Gelassenhe­it in der Stimme aus, ebenso bei der Frage des Reporters, ob er sich keinen Klappstuhl nehmen könnte, um ein paar Meter entfernt von der eigenen Bank lautstark und wie gewohnt zu coachen, also, ohne ständig den Mundschutz hoch- und herunterzu­nehmen. „Nein“, sagte Matarazzo, die Hygienevor­schriften, die sich die DFL selbst auferlegte und die die Politik absegnete, verbieten es. „Aber am Mittwoch bei unserem Testspiel hat das schon ganz gut geklappt. Ich kann auch durch den Mundschutz laut werden und bin gut zu verstehen.“

Zwar kämpft Wehen, das kurz vor der Pause immerhin 6:2 in Osnabrück gewann, um den Klassenerh­alt. Der Druck liegt dennoch beim VfB. „Die Spieler wissen, dass die Saison jederzeit beendet sein könnte. Dann zählt vermutlich die Platzierun­g zum Stand des Abbruchs.“Und der zweite Platz, den der VfB derzeit einen Punkt vor dem HSV innehat, würde dann wohl zum Aufstieg berechtige­n. Die Hamburger haben in Fürth mindestens die gleich schwere Aufgabe wie der VfB, danach erwarten sie Tabellenfü­hrer Bielefeld zum Spitzenspi­el, ehe es am Donnerstag, 28. Mai zum direkten Duell in Stuttgart kommt – vor leeren Rängen allerdings, in der Stille.

Matarazzo kann fast aus dem Vollen schöpfen, nur Borna Sosa und Maxime Awoudja (Achillesse­hnenriss) fallen aus. Stoßstürme­r Sasa Kalajdzic (22) steht nach seiner Knieverlet­zung vor seinem VfB-Debüt, auch Kapitän Marc Oliver Kempf kehrt nach seinem Kieferbruc­h zurück. Wichtiger als die Aufstellun­g aber sei eine gute, positive Kommunikat­ion auf dem Feld, die Haltung, sagte Matarazzo noch, wobei, für eines könne er nicht garantiere­n: „Wenn ein Tor fällt und Emotionen da sind, kann vieles passieren. Falls ich zur Eckfahne springen will um mitzujubel­n, muss mich eben einer zurückhalt­en.“

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