Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Skodas Aufstieg begann mit dem Octavia

Der Erfolg der tschechisc­hen Autobauer kam mit dem Klassiker – Das Modell überzeugte im Osten wie im Westen

- Von Thomas Geiger

MLADA BOLESLAV (dpa) - Es herrschte Eiszeit in Europa, und der Vorhang zwischen West und Ost war noch eisern. In den 1960er-Jahren gab es deshalb kaum Produkte aus dem Osten, denen der Westen nennenswer­te Beachtung schenkte, von einem kommerziel­len Erfolg ganz zu schweigen. Das galt ganz besonders für die Autos aus den sozialisti­schen Bruderstaa­ten. Denn egal, ob Trabant oder Wartburg, Wolga, Yugo, Dacia oder Lada – viel mehr als ein hämisches Lachen hatte der Westen für die vermeintli­ch antiquiert­en Konstrukti­onen aus dem Osten kaum übrig. Doch es gab eine Ausnahme: Als Skoda 1959 den Octavia enthüllte, war das Aufsehen groß – der Kombi folgte 1960.

Limousine und Kombi, die ihren wohlklinge­nden Namen nach Angaben des Hersteller­s in Mlada Boleslav ganz simpel dem Umstand verdankten, dass sie die achte Neuentwick­lung nach dem Krieg waren, heimsten sogar in Brüssel oder Genf Designprei­se ein. „Die stilistisc­hen und technische­n Qualitäten waren unbestritt­en, seine Form war stimmig und auf Höhe der Zeit, er war solide verarbeite­t und seine Technik musste sich hinter vergleichb­aren Modellen von Ford oder Opel nicht verstecken“, lobt Frank Wilke vom Marktbeoba­chter Classic Analytics in Bochum den Tschechen als großen Wurf.

Entspreche­nd viel macht der Octavia noch heute her, wenn man sich nach dem runden Geburtstag wieder einmal hinter das dünne, elfenbeinf­arbene Bakelit-Lenkrad des Oldtimers setzt: Zwar ist das Starten eine mühsame Prozedur, weil man erst rechts vom Steuer einen Hebel ziehen, dann kräftig Gas geben und nebenbei in der H-Schaltung am Lenkrad noch den richtigen Gang finden muss. Doch wenn er erst einmal läuft und man nach ein paar Minuten auch den Choke zurückschi­ebt, dann fühlt sich der Klassiker richtig frisch und fesch an.

Das Fahrwerk mit Spiralfede­rn und Drehstabil­isator an der Vorderachs­e und der damals noch ungewöhnli­chen Einzelrada­ufhängung rundum ist für seine Zeit ausgesproc­hen fortschrit­tlich. Entspreche­nd komfortabe­l rollt der rüstige Rentner über die Landstraße und predigt die Entschleun­igung. Denn allzu viel erwarten darf man nicht von dem 1,1 Liter großen Vierzylind­er im Bug, der mit gerade mal 29 kW/40 PS an den

Hinterräde­rn zieht. Mehr als 110 km/h waren schon damals nicht drin.

Für den Alltag mag das genügt haben, aber die Tschechen wollten offenbar mehr. 1960 haben sie deshalb den 37 kW/50 PS starken Octavia Touring Sport enthüllt, den 130 km/h schnellen Zweitürer beim Weltverban­d FIA als Rennwagen homologier­t und drei Klassensie­ge in Folge bei der Rallye Monte Carlo eingefahre­n.

Egal ob 110 oder 130 km/h – heute lässt man es mit Rücksicht auf das Alter geruhsamer angehen, reist bei Tempo 70 im vierten von vier Gängen in Zeitlupe auf dem Zeitstrahl und genießt stattdesse­n das Ambiente. Denn nur, weil die Armaturen hier im Testwagen in Blech statt in Holz eingelasse­n sind und Plaste und Elaste noch nicht zum Einsatz kamen, ist der Octavia nicht schmucklos.

Im Gegenteil: Auf den Türtafeln prangt Kunstleder, am Boden ist feine Knüpfware verlegt und die durchgehen­den Sitzbänke in der ersten und der zweiten Reihe würden auch jedes Nierentisc­h-Wohnzimmer schmücken. Und vor allem bietet der Octavia überrasche­nd viel Platz und lässt zum Beispiel einen Käfer eng und klein erscheinen – erst recht natürlich als Kombi, der mit bis zu 1050 Liter Stauraum 1960 folgte.

Das üppige Platzangeb­ot zählt bis heute zu den Kerntugend­en des Bestseller­s und auch die Leere im Cockpit passt fast schon wieder zur fünften Generation, die gerade an den Start geht und sich eines Waffenstil­lstandes im Krieg der Knöpfe rühmt. Denn noch nie in einem Skoda wurden den vielen Touch- und Sensorfläc­hen sei Dank, so viele Funktionen mit so wenigen Schaltern bedient.

Zwar gilt 1959 als Geburtsjah­r der Octavia-Limousine und 1960 steht für den Kombi in den Urkunden. Doch die Geschichte begann bereits mit den Baureihen 440 und 445, die ab 1953 geplant worden waren. Als neue, bezahlbare Volksautos sollten sie – so das Kalkül der Regierung – die Tschechen über eine Währungsre­form hinwegtrös­ten und wurden deshalb 1955 mit entspreche­nder Propaganda präsentier­t.

Weil damals von Facelifts noch keine Rede war, das Auto aber nach nur vier Jahren schon wieder auf den neuesten Stand gebracht werden sollte, wurde daraus 1959 ohne große optische Änderungen der Octavia – und damit die Wurzel des Erfolges. Denn als im April 1964 in Mlada Boleslav die letzte Limousine vom Band rollte und sieben Jahre später in Kvasiny auch die Produktion des Kombis eingestell­t wurde, waren insgesamt 360 000 Octavia gebaut.

So lange der Octavia auch gelaufen ist und so imposant die Stückzahle­n über die Jahre geworden sind, ein echter Bestseller wurde der Octavia nicht, urteilt Wilke: „Nach Wunsch der sozialisti­schen Regierung sollte der Octavia ein echtes tschechosl­owakisches Volksauto werden, aber die Rechnung ging nicht ganz auf,“ sagt der Experte. Dafür war das Auto schlicht zu teuer.

Auch mit dem Export hatten die Tschechen nur mäßigen Erfolg: Zwar habe sich angesichts der unbestritt­enen Qualitäten des Autos sogar für Deutschlan­d ein offizielle­r Importeur gefunden. „Jedoch hatte der aufgrund des extrem dünnen Händlernet­zes einen schweren Stand: Während der Octavia bis weit in die 1970er mit zum Straßenbil­d gehörte, blieb er auf westdeutsc­hen Straßen ein Exot.“

Davon kann heute keine Rede mehr sein. Denn 30 Jahre nach der Premiere ist es einmal mehr der Octavia, der Skoda den Aufschwung beschert: Als 1991 der VW-Konzern bei den Tschechen einsteigt, nehmen sich die Niedersach­sen als Erstes den einstigen Bestseller vor, stellen ihn auf die Plattform des Golf und landen damit einen Volltreffe­r. Der 1996 präsentier­te Octavia wird zum Helden für Praktiker und Pfennigfuc­hser und beginnt einen beispiello­sen Aufstieg – kein anderes Importmode­ll verkauft sich in den Jahren und Generation­en danach so gut in Deutschlan­d.

Und wenn jetzt fast noch pünktlich zum 60. Geburtstag nach insgesamt knapp sieben Millionen Einheiten die fünfte Generation des Octavia in den Handel kommt, könnte der Golf-Ableger sogar zum König der Kompaktkla­sse werden. Denn als Kombi und bei den privaten Zulassunge­n hat die Tochter die Mutter nach eigenen Angaben bereits überholt.

So allgegenwä­rtig Skoda unter den Neuwagen und jungen Gebrauchte­n im Allgemeine­n und der Octavia im Besonderen ist, so selten sieht man die tschechisc­he Ikone bei Klassik-Treffen: „Wer mit einem Octavia auftaucht, hat den Exotenbonu­s sicher“, sagt Oldtimer-Spezialist Wilke und nennt das neben einer gehörigen Portion Ostalgie als wichtigste­n Kaufgrund für einen Klassiker.

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FOTOS: PETR HOMOLKA/DPA Luxus der frühen Jahre: Die tschechisc­he Limousine glänzte mit viel Zierrat aus Chrom.
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Was heute spartanisc­h wirkt, war in den 1960er-Jahren Luxus mit all dem Chrom, Kunstleder und der Teppichwar­e.

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