Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Tettnanger SPD wird 150 Jahre alt
Einer der ältesten Ortsvereine Deutschlands erlebt innerhalb von 15 Jahrzehnten eine wechselvolle Geschichte
TETTNANG - 150 Jahre Bestehen feiert der SPD-Ortsverein Tettnang in diesem Jahr, und damit ist er einer der ältesten deutschen Ortsvereine überhaupt. Wenngleich die Tettnanger Sozialdemokraten, bedingt durch die Corona-Pandemie, noch nicht genau wissen, ob und wann dieses Ereignis gebührend gefeiert werden kann, schaut die „Schwäbische Zeitung“mit einem Besuch im Stadtarchiv Tettnang auf die Entstehungszeit des Ortsvereins und seine weitere Entwicklung.
Die Geschichte der Tettnanger SPD reicht zurück ins Jahr 1866, als im Gasthaus „Zum Löwen“am 11. November ein Arbeiterbildungsverein (ABV) gegründet wurde. Diese Vereine
waren Zusammenschlüsse von zumeist Arbeitern und Handwerkern – auch ein gewisser August Bebel war in Leipzip Mitglied in einem solchen Verein und sollte in dieser Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen. Der Zweck der Vereine: Durch die Vermittlung von Literatur und der Möglichkeit, Lehrvorträge zu besuchen, sollten sich die Mitglieder weiterbilden können. Wichtig waren aber auch die gegenseitige Unterstützung im Krankheitsfall sowie die Pflege kameradschaftlicher Beziehungen untereinander.
25 der durchschnittlich 70 Mitglieder dieses Arbeiterbildungsvereins schlossen sich 1870 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) an. Doch wie kam es dazu? Die SDAP war im Jahr zuvor von eben jenem August Bebel sowie von Karl Liebknecht gegründet worden. August Bebel wiederum war 1869 auf „Agitationsreise“und warb bei den württembergischen Arbeiterbildungsvereinen um deren Anschluss an die SDAP.
In Ravensburg referierte der berühmte Politiker am 16. November über die „soziale Frage“, und das offenbar so redegewandt, klar und stichhaltig, dass sich Mitglieder des Tettnanger Vereins in der Folge der SDAP anschlossen. Im Tettnanger Amtsblatt kündete eine Anzeige vom 13. Mai 1870 von diesem Ereignis, in der zur Versammlung mit dem Punkt „Vortrag über die Wichtigkeit des Anschlusses aller Arbeiter zur Förderung ihrer geistigen und materiellen Interessen“geladen wurde – die Geburtstunde der Tettnanger SPD.
Der ABV bestand parallel fort und verfolgte weiter seine Zwecke der Arbeiterbildung und der Geselligkeit. Damit waren die Tettnanger mit dem Anschluss sogar schneller als der württembergische Gauverband der Arbeiterbildungsvereine – das sollte noch ein halbes Jahr dauern. Allerdings: Aufgrund der hohen Fluktuation gab es nach bereits fünf Jahren keine SDAP-Mitglieder mehr in Tettnang.
Bismarcks sogenanntes „Sozialistengesetz“, erstmals 1878 mit dem Zweck erlassen, sozialistische, sozialdemokratische und auch kommunistische Vereine zu verbieten, beendete die sozialdemokratische Aktivitäten auch in Tettnang – zunächst einmal. Einen erneuten Anlauf nahmen die Sozialdemokraten 1910 mit einer Wiedergründung als Sozialdemokratischer Verein (SdV), obwohl sie in der Oberamtsstadt Tettnang – wie die gesamte Region geprägt durch das konservativ-katholische Lager – kaum öffentlich Aufsehen erregten.
Aber auch das war nach nur zwei Jahren schon wieder vorbei, denn nach massiven Einschüchterungen durch Georg Locher, Zentrumsabgeordneter und größter Fabrikant vor Ort, löste sich die Organisation auch schon wieder auf. Einzelne Mitglieder schlossen sich dem SPD-Ortsverein in Friedrichshafen an.
Erst die Novemberrevolution 1918 bereitete nach tiefgreifenden politischen Umwälzungen und in der Folge der Entstehung der Weimarer Republik – und damit der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland – den Boden für erneute sozialdemokratische Aktivitäten auch in Tettnang.
Am 22. November 1918 gründete sich der Sozialdemokratische Verein erneut. Im Mai 1919 wurde mit Georg Martin erstmals ein Sozialdemokrat ins Stadtparlament gewählt. In der Folgezeit machte der SdV mit vielerlei Aktivitäten auf sich aufmerksam, zum Beispiel mit gut besuchten und aufwändig organisierten Mai- und Weihnachtsfeiern. Dabei waren die Zeiten wirtschaftlich alles andere als einfach. Doch auch diese Blütezeit neigte sich nach 1921 ihrem Ende zu, unter anderem auch deshalb, weil die Tettnanger SPD ab 1920 durch die Abspaltung der USPD, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, geschwächt war.
Im Hinblick auf die drohende nationalsozialistische Diktatur verstärkte auch die SPD in Tettnang ihre Aktivitäten wieder. Noch im März 1933 fand auf dem Bärenplatz eine Demonstration mit Kundgebung gegen den Faschismus statt, doch im Juni war es endgültig vorbei: Die SPD wurde in ganz Deutschland verboten.
Den Neuanfang nahmen 1946 die Tettnanger Wilhelm Beck, Karl Huber, Engelbert Ziegler, Karl Meshmer und Pius Riedel in die Hand. Am 19. Januar beantragten sie bei der französischen Besatzungsbehörde, eine Gründungsversammlung einberufen zu dürfen, die Genehmigung erhielten sie erst am 21. Mai 1946. Vier Tage später, am 25. Mai, fand in der Bahnhofswirtschaft die Gründung statt. Im Februar 1947 zählte der SPD-Ortsverein bereits 44 Mitglieder, darunter elf Frauen.
Bei der ersten Gemeinderatswahl zog als SPD-Vertreter Hermann Peter in das Gremium ein, bei der nächsten Kommunalwahl im November 1948 stellte die SPD erneut eine eigene Liste und brachte mit Franz Priester und Franz Heine zwei Mitglieder in den Gemeinderat. Anlässlich der Festschrift zum 125-jährigen Bestehen schreibt der Autor: „Obwohl die SPD Tettnang angesichts der politischen Tradition unseres Raumes nicht die Illusion hat, auf kommunaler Ebene eine Mehrheitspartei zu werden... ist sie... eine Gruppe engagierter Demokraten mit wacher sozialer Verpflichtung.“