Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Heikles Aussieben der Belegschaft
Die Sozialauswahl bei Entlassungen steckt für Arbeitgeber und Arbeitnehmer voller Fallen
BERLIN - Bei Airbus fallen allein in Deutschland vermutlich 5100 Stellen weg, bei der Commerzbank geraten derzeit gerüchteweise rund 10 000 Arbeitsplätze in Gefahr, beim Autozulieferer ZF sind es 7500. Fast täglich laufen neue Schreckensnachrichten von bevorstehenden Entlassungen über den Ticker. Fast alle Branchen sind mehr oder weniger betroffen.
Die Zahlen wirken zusammengenommen gigantisch, und noch ist trotz aller Konjunkturförderung unsicher, wann und wie die vielen freigesetzten Mitarbeiter wieder Jobs finden. Umso wichtiger ist derzeit die sozialverträgliche Gestaltung des Stellenabbaus. Experten warnen hier sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer davor, während der Ausnahmesituation die üblichen rechtlichen Regeln zu übersehen. „Die Betriebe müssen sich auch in einer Pandemie an den Kündigungsschutz halten, und betroffene Mitarbeiter können sich genauso wehren wie in einem normalen Jahr“, sagt Hans-Hermann Aldenhoff, Experte für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Simmons & Simmons in Düsseldorf.
Der Stellenabbau läuft zwar überall unter dem Stichwort „Corona“, doch zum Teil handelt es sich um schon länger geplante Programme, die durch die Pandemie lediglich eine neue Rechtfertigung erhalten. Dazu gehören beispielsweise die Sparprogramme bei Daimler. Zum Teil haben die Geschäftsausfälle tatsächlich alle Pläne umgworfen. Beste Beispiele sind hier Airbus und die Lufthansa. Andere Unternehmen mussten wegen der Krise bereits Insolvenz anmelden.
Der Gewerkschaft Verdi zufolge gelten die Regeln des deutschen Arbeitsrechts jedoch auch bei einer Insolvenz weiter. „Außerdem muss die Sozialauswahl eingehalten werden“, betonen die Rechtsexperten der Gewerkschaft. Das gilt auch und gerade dann, wenn Zehntausende von Stellen wegfallen.
Für die Arbeitgeber ist die Sozialauswahl vermintes Gelände, für Arbeitnehmer stellt sie dagegen immerhin eine Chance dar, ihr Beschäftigungsverhältnis doch noch zu retten oder eine Entschädigung herauszuschlagen. Ältere Mitarbeiter dürfen eher bleiben als jüngere, und auch solche mit Kindern genießen besonderen Schutz. Die Kriterien lauten: Lebensalter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und eine eventuell vorhandene Schwerbehinderung. Die Leistungsfähigkeit spielt vor dem Gesetz zunächst keine Rolle.
Die Firmen erstellen daher im Allgemeinen – am besten unter Mitwirkung des Betriebsrats – zunächst eine Liste der Mitarbeiter, die ihren Rang nach den sozialen Kriterien widerspiegelt. Dann können sie die mit der geringsten Schutzbedürftigkeit zuerst entlassen.
Doch bei diesem groben Schema fangen die Komplikationen erst an. „Die Personalverantwortlichen müssen zunächst ermitteln, welche Arbeitnehmer miteinander vergleichbar sind“, sagt Anwalt Aldenhoff. Gerichte haben dafür folgende Faustregel entwickelt: Mitarbeiter, die den Job des anderen innerhalb von drei bis sechs Monaten erlernen können, gelten als vergleichbar. „Die Sozialauswahl
kommt dann innerhalb dieser Vergleichsgruppe zur Anwendung“, sagt Aldenhoff.
Bei der Lufthansa wäre beispielsweise das Kabinenpersonal eine solche Vergleichsgruppe, während die Piloten eine eigene Gruppe bilden. Schließlich lässt sich deren Beruf nicht in drei Monaten erlernen.
Die Auswahl erfolgt jedoch Experten zufolge in der Praxis nur selten ausschließlich nach sozialen Kriterien. Die meisten Unternehmen wollen die Entlassungen nutzen, um das Personal zu „optimieren“, also von der Leistung her vermeintlich stärkere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu halten und schwächere zu entlassen. Geschickte Personalleiter bereiten das vor, indem sie die Vergleichsgruppen kreativ zuschneiden, sodass die Sozialauswahl danach das gewünschte Ergebnis liefert.
Viele Arbeitgeber bieten dann im nächsten Schritt denjenigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, von denen sie sich am ehesten trennen möchten, ein sehr gutes Abfindungsangebot an, um sie aus der Sozialauswahl
herauszuhalten. Das Angebot falle in der Regel umso großzügiger aus, je höheren Schutz die- oder derjenige vor Entlassung genieße, sagt Aldenhoff.
Das Geschiebe führt jedoch auch dazu, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in vielen Fällen gegen ihre Entlassung wehren können. Aldenhoffs Erfahrung zufolge treten diese noch zügig in eine Gewerkschaft ein – denn deren Mitglieder genießen in der Regel Rechtsschutz. Eine Klage gegen die Kündigung muss innerhalb von drei Wochen erfolgen. Aus Sicht der Justiz können viele Aspekte der Kündigung angreifbar sein: Die Vergleichbarkeit der Tätigkeit innerhalb der Abteilung, die Rangliste der Sozialauswahl oder die Formalien der Kündigung.
Experten raten dazu, jetzt eher eine saftige Entschädigung als Ziel zu setzen als die Wiedereinstellung. Für ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bedeute das angesichts der Krise, am besten mehrere Jahresgehälter zu fordern.