Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Seit 70 Jahren hat Karlsruhe das letzte Wort
Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft verhandeln spektakuläre Fälle – Urteile sollen auch Vertrauen in den Rechtsstaat stärken
KARLSRUHE (dpa/lsw) - Für die einen ist es Hoffnung, für die anderen Drohung: In jedem Fall aber ist der „Gang nach Karlsruhe“mit einer höchstrichterlichen Entscheidung verbunden. Hier wurde am 1. Oktober 1950 der Bundesgerichtshof (BGH) ins Leben gerufen, als letzte Instanz für zivil- und strafrechtliche Verfahren. Zugleich wurde der Generalbundesanwalt (GBA) am BGH angesiedelt. Knapp ein Jahr später kam auch das Bundesverfassungsgericht in die Fächerstadt. Seit 70 Jahren ist Karlsruhe nun „Residenz des Rechts“.
„Wir feiern damit zugleich eine Epoche der Rechtsstaatlichkeit, wie sie unser Land in seiner langen und wechselvollen Geschichte nie zuvor erlebt hat“, sagte Stephan Harbarth, der Präsident des Bundesvefassungsgerichts. Der große Festakt wurde wegen der Corona-Pandemie abgeblasen. Gefeiert und diskutiert wurde im BGH dennoch mit hochrangigen Gästen vom SWR-Fernsehen und im Internet live übertragen.
Dass ausgerechnet Karlsruhe die bundesweite Justiz-Hauptstadt wurde, war nicht unbedingt vorhersehbar. Die Badener mussten sich gegen scharfe Städte-Konkurrenz durchsetzen, darunter Köln, Kassel, Frankfurt und Hamburg. Und auch gegen das Votum von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), der Köln als Hauptstadt des Rechts sehen wollte.
Doch wenige Jahre nach Kriegsende waren in der jungen Bundesrepublik 100 sofort beziehbare Wohnungen für Richter ein ebenso schlagendes Argument wie ein repräsentativer Gerichtssitz. Große Glaskuppel, eindrucksvolles Treppenhaus und Neobarock-Fassade: Das Erbgroßherzogliche Palais überzeugte den damaligen Justizminister Thomas Dehler (FDP) bei einem Besuch.
Am 8. Oktober 1950 wurde der BGH in Karlsruhe mit einem Festakt eröffnet. Der erste Präsident hieß Hermann Weinkauff. Anfangs auch als „Traditionskompanie des Reichsgerichts“geschmäht und wegen unzureichender Auseinandersetzung mit der NS-Justiz kritisiert, hat sich Tausende Entscheidungen und acht Präsidenten später viel getan: Die Zahl der Richter stieg von 64 auf über 150, es gibt eine Dependance in Leipzig, und mit Bettina Limperg wird seit sechs Jahren die einstige Männerbastion von einer Präsidentin geführt.
Die Arbeitsbelastung wuchs, die Bedeutung auch. Mit spektakulären Fällen wie Raser-, Hells-Angelsoder Diesel-Verfahren stiehlt der Bundesgerichtshof selbst dem Bundesverfassungsgericht
zuweilen die Schau. „Der BGH hat sich zu einer hoch anerkannten Instanz entwickelt“, sagt Präsidentin Limperg. Auch in Europa – wenngleich der BGH häufig Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs berücksichtigen muss. Neben der Klärung von Grundsatzfragen, der Wahrung einer einheitlichen Rechtsordnung und der Fortentwicklung des Rechts sieht Limperg eine weitere wichtige Aufgabe des BGH: Das Vertrauen in den Rechtsstaat stärken.
Das Gericht bemüht sich mit klaren Urteilen und geführten Besuchen um Transparenz. Doch die RAF-Zeiten und die Ermordung von
Generalbundesanwalt Siegfried Buback am 7. April 1977 haben Spuren hinterlassen. Zwar erscheint der BGH seit dem Umzug der Bundesanwaltschaft in ein neues Gebäude im Jahr 1998 etwas weniger martialisch. Stark gesichert und abgeschottet ist das Areal aber nach wie vor. Und Generalbundesanwalt Peter
Frank ist ein paar Straßen weiter mit seinen 300 Mitarbeitern – darunter 110 Bundesanwälte – nun ganz hinter uneinsichtigen dicken Mauern verschanzt.
Schließlich verfolgt der oberste Ankläger der Republik terroristische Straftaten von Rechten, Linken sowie Islamisten. Neben Spionagesachen ermittelt er auch Völkerrechtsverbrechen in Ruanda und Syrien. Für den Generalbundesanwalt ist der 70. Jahrestag seiner Behörde untrennbar mit dem Jubiläum des Grundgesetzes verbunden: „Es ist das Fundament unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie ermöglicht es uns, jeden Tag aufs Neue in Freiheit zu leben. Wir verteidigen diese Freiheit, den Rechtsstaat und die Demokratie.“
Die Arbeit des obersten Terrorermittlers sowie des höchsten Zivilund Strafgerichts beleuchtete zum Jubiläum der SWR-Life-Talk im BGH näher. ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam sprach dabei mit BGHPräsidentin Limperg und Generalbundesanwalt Frank auch darüber, inwiefern Urteile aus Karlsruhe den Alltag der Menschen beeinflussen und inwieweit die Justiz im Internetzeitalter sich jungen Menschen öffnen muss. Gerade die sollen wissen: „Wir sitzen nicht im Elfenbeinturm, sondern stehen im Leben“, betont die BGH-Präsidentin.