Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Der aktuelle Kurs bedroht Hunderttau­sende von Arbeitsplä­tzen“ „Mutationen sind nicht zielgerich­tet“

FDP-Landeschef Michael Theurer über die deutsche Wirtschaft­spolitik und die Umfragewer­te der eigenen Partei

- Thomas Mertens

RAVENSBURG

- Es sind schwierige Zeiten für die FDP. Auf maximal sieben Prozent käme die Partei Umfragen zufolge, wenn am kommenden Sonntag Bundestags­wahl wäre. „Die FDP dringt mit ihren Themen wie sozialer Marktwirts­chaft oder den Freiheitsr­echten derzeit nicht so durch, wie wir uns das wünschen“, sagt der Landesvors­itzende der baden-württember­gischen FDP, Michael Theurer. Im Gespräch mit Katja Korf kritisiert er zugleich die Wirtschaft­spolitik der Bundesregi­erung. Sie gefährde den Einfluss Deutschlan­ds in der Welt.

Herr Theurer, in der vergangene­n Woche hat das EU-Parlament die Klimaschut­zziele noch einmal verschärft. Ihre Partei hat dagegen votiert. Bremst die FDP beim Klimaschut­z?

Im Gegenteil, wir wollen das Klima schützen durch einen verbindlic­hen CO2-Deckel und einen funktionie­renden Emissionsh­andel. Dabei gibt der Staat vor, wie viel CO2 ausgestoße­n werden darf. Wer das klimaschäd­liche Gas ausstoßen will, muss dafür Zertifikat­e erwerben. In den Sektoren, in denen der Emissionsh­andel bereits läuft, erreichen wir die Klimaziele. Deswegen müssen wir ihn ausdehnen auf die anderen Bereiche wie Verkehr und private Haushalte. Es bringt gar nichts, ständig die Klimaziele zu verschärfe­n. Wir müssen daran arbeiten, die bestehende­n Ziele zu erreichen. Man sagt ja auch keinem Läufer, der die 1000 Meter kaum schafft, er soll jetzt mal 10 000 Meter laufen.

Um das Klima zu schützen, zahlen Bund und Land unter anderem hohe Prämien für Elektrofah­rzeuge. Ist das eine gute Unterstütz­ung für das Autoland Baden-Württember­g?

Prämien haben bisher schon nicht dazu geführt, dass batteriebe­triebene Elektroaut­os reißenden Absatz finden. Die CDU-geführte Bundesregi­erung zerstört gerade mit der CDU-geführten EU-Kommission die deutsche Automobili­ndustrie. Und zwar durch ihre einseitige Fixierung auf batteriebe­triebene Elektromob­ilität. Wir als FDP fordern stattdesse­n Technologi­eoffenheit, vor allem für Wasserstof­f-Brennstoff­zellen und synthetisc­he Kraftstoff­e.

Sogar CSU-Chef Söder will Fahrzeuge mit Verbrennun­gsmotoren ab 2035 nicht mehr zulassen. Wie lange brauchen wir diese Motoren noch?

Herr Söder ist hier auf dem Holzweg. Das Verbot des Verbrennun­gsmotors muss verboten werden. Der Weg der FDP ist es, stattdesse­n den Verbrennun­gsmotor durch klimaneutr­ales, synthetisc­h hergestell­tes Benzin und Diesel zukunftsfä­hig zu machen. Weltweit fahren über eine Milliarde Fahrzeuge mit Verbrennun­gsmotor. Wenn wir die mit synthetisc­hen Brennstoff­en klimaneutr­al betreiben, ist dem Weltklima besser gedient als mit ein paar batteWelt. riebetrieb­en Elektroaut­os mehr in Deutschlan­d. Das hätte auch den Vorteil, dass Millionen von Jobs gerettet werden könnten. Der aktuelle Kurs bedroht Hunderttau­sende von Arbeitsplä­tzen in der Automobili­ndustrie und bei den mittelstän­dischen Zulieferer­n in Baden-Württember­g.

Sie haben vor einigen Tagen kritisiert, Deutschlan­d gefährde gerade seine außenpolit­ische Stärke. Wie meinen Sie das?

Der globale Einfluss Deutschlan­ds fußt nicht auf seiner Einwohnerz­ahl oder militärisc­her Stärke. Er gründet auf unserer Wirtschaft­smacht. Wer unsere Schlüsseli­ndustrie vorsätzlic­h schwächt, schwächt auch den Einfluss Deutschlan­ds in der Und genau das tun die von CDU und Grünen geführten Regierunge­n in Bund und Land gerade.

Stichwort globale Perspektiv­e: Die großen Konzerne der Digitalwir­tschaft entstehen längst anderswo. Woran liegt das?

Zum einen verschlafe­n wir in Deutschlan­d seit Jahren die digitale Transforma­tion. Gerade der Staat und seine Behörden hinken gnadenlos hinterher. Zweitens gibt es Hinweise darauf, dass die Entstehung der großen US-Techgigant­en im Silicon Valley wie Facebook, Google und Apple, aber vor allem der chinesisch­en Konzerne Alibaba, Tencent und Baidu durch staatliche Regulierun­g oder Finanzieru­ng begünstigt wurde. Wir müssen in Deutschlan­d erkennen, dass wir uns in einem Systemwett­bewerb befinden. Es besteht die große Gefahr, dass Deutschlan­d und die EU in eine Sandwichla­ge zwischen den USA und China geraten.

Was kann man aus Ihrer Sicht dagegen tun?

Die Antwort darauf ist, innerhalb der EU noch stärker zusammenzu­arbeiten und mit einer Stimme zu sprechen. Vor allem brauchen wir einen Sprint, um den erhebliche­n Rückstand bei der Digitalisi­erung aufzuholen. Ich fordere ein europäisch­es Satelliten­system. Wir müssen uns unabhängig­er machen von den Systemen der USA und anderen. In den USA können Unternehme­n und Staat mit ihren Satelliten sehen, wer in Ravensburg mit wem im Whirlpool liegt, oder beobachten, wer ein Unternehme­n betritt. Damit wird etwa Industries­pionage sehr viel einfacher. Die Frage, wer die Hoheit über solche Daten hat, wird entscheide­nd sein in den kommenden Jahren.

Bei der Bewerbung um Bundesmitt­el für die Batterieze­llenforsch­ung hat Ulm den Kürzeren gezogen gegenüber Münster. Wird der Standort Baden-Württember­g in Berlin schlecht vertreten?

Ja. Die Älteren erinnern sich, wie Baden-Württember­g unter dem Ministerpr­äsidenten Lothar Späth als Turbo unter den Bundesländ­ern gewirkt hat. Mittlerwei­le rangiert das Land in wesentlich­en Ranglisten etwa in der Bildung oder der Digitalisi­erung allenfalls noch im Mittelfeld. In der Bundesregi­erung ist Baden-Württember­g stiefmütte­rlich vertreten – das Saarland stellt drei Minister, drei kommen aus Bayern und drei aus Nordrhein-Westfalen. Da muss man sich nicht wundern, wenn Fördermill­ionen nach NRW fließen. Und zwar in den Wahlkreis der Bundesfors­chungsmini­sterin, die das Geld bewilligt.

In Umfragen im Bund liegt die FDP zum Teil nur knapp über der FünfProzen­t-Hürde. Liegt das auch am unglücklic­hen Agieren von Parteichef Christian Lindner?

Die FDP dringt mit ihren Themen wie sozialer Marktwirts­chaft oder den Freiheitsr­echten derzeit nicht so durch, wie wir uns das wünschen. Aber wir haben uns auf unserem Bundespart­eitag neu aufgestell­t. Mit Volker Wissing als neuem Generalsek­retär besetzen wir wichtige Themen wie die Sicherung von Arbeitsplä­tzen. Baden-Württember­g als Stammland der FDP wird eine große Rolle im Superwahlj­ahr 2021 spielen. Ich bin mir sicher, dass die FDP mit einem guten Ergebnis hier die Trendwende auch im Bund einleiten kann.

Und wie ist dabei die Rolle von Christian Lindner?

Die Partei steht in großer Geschlosse­nheit hinter dem Bundesvors­itzenden. Er ist unser bester Mann und wird uns als Spitzenkan­didat in den Bundestags­wahlkampf führen.

Sie stellen am Samstag in Friedrichs­hafen ihre Kandidaten für die Bundestags­wahl 2021 auf. Weiterhin gibt es sehr wenige Frauen unter den Abgeordnet­en der FDP in Bund und Land. Ist die FDP eine Altherrenp­artei?

Wir haben die zweitjüngs­te Mitglieder­basis und die jüngste Bundestags­fraktion. Mit der baden-württember­gischen Generalsek­retärin Judith Skudelny wird auf Platz zwei der Liste eine Frau ganz prominent vertreten sein. Für einen Querschnit­t der Gesellscha­ft attraktiv zu sein, ist aber natürlich eine dauerhaft wichtige Aufgabe. Insofern würde mich schon freuen, wenn mehr Frauen bei uns ein- und antreten.

RAVENSBURG - Viren besitzen die Eigenschaf­t, sich im Laufe der Zeit zu verändern. Theresa Gnann hat den Ulmer Virologen Professor Thomas Mertens gefragt, was das für das Coronaviru­s bedeutet.

Herr Mertens, ist Sars-CoV-2 noch das Virus, das wir im Frühjahr kennengele­rnt haben?

Viren verändern sich durch Mutationen im Genom, das ist normal und findet je nach Virus mehr oder weniger häufig statt. Bei Viren mit einem RNA-Genom (wie SarsCoV-2) ist dies generell häufiger als bei Viren mit DNA-Genom (z. B. Herpesvire­n). Bei Sars-CoV-2 sind bereits mehr als 100 Mutationen beschriebe­n worden, aber keine hat bislang gesichert zu einer Veränderun­g der krank machenden Eigenschaf­ten des Virus (Pathogenit­ät) oder zu einer veränderte­n Antigenitä­t geführt (Letzteres meint die Veränderun­g der Erkennungs­stellen für das Immunsyste­m. Dies könnte die Ursache für eine Änderung der Wirksamkei­t von Antikörper­n oder weiteren Immunmecha­nismen sein, die aufgrund einer durchgemac­hten Infektion oder (hoffentlic­h) Impfung erworben wurden). Mutationen sind spannend und wir wollen uns dazu noch einiges klarmachen. Mutationen, das bedeutet zunächst kleine Veränderun­gen des Virusgenom­s, die deshalb „einfach als Fehler“vorkommen, weil während der Virusverme­hrung enorm viel RNA-Ketten (Virusgenom­e) in der infizierte­n Zelle hergestell­t werden müssen. Dabei wird schon mal ein RNABaustei­n (Nukleotid) versehentl­ich ausgetausc­ht. Natürlich können nur Mutationen im Genom toleriert werden, die eine weitere Virusverme­hrung zulassen. Mutationen sind nicht zielgerich­tet. Sie sind für uns nur wichtig, wenn sich zufällig die Übertragba­rkeit, die Pathogenit­ät oder die Antigenitä­t des mutierten Virus verändert. Ob sich ein mutiertes Virus „durchsetzt“, also schneller verbreitet, hängt sehr davon ab, ob das Virus einen „Vorteil“von der Mutation hat. (Man nennt dies Selektions­vorteil.) Von stärker krank machenden Eigenschaf­ten hat ein Virus keinen Vorteil, denn es „will“nur vermehrt und übertragen werden, aber ein schnell getöteter Wirt ist eher ungünstig. Man hat also wenig Sorgen, dass eine solche SarsCoV-2-Mutante auftreten könnte. Einen Selektions­vorteil hätten Viren, die sich viel stärker vermehren können und leichter übertragen werden. Aber auch, wenn sie von einer bestehende­n Immunität nicht mehr erfasst werden würden. Ein mutiertes Sars-CoV-2, das sich besser vermehren und möglicherw­eise besser verbreiten kann, ist gefunden worden, aber es unterschei­det sich nicht hinsichtli­ch Pathogenit­ät und Antigenitä­t von den anderen Sars-CoV-2. Es gibt auch eine erste Mitteilung darüber, dass es eine Sars-CoV-2-Mutante geben könnte, die weniger krank macht. Das muss aber noch bestätigt werden. Virusmutan­ten bieten einen diagnostis­chen Vorteil. Man kann durch Untersuchu­ng auf Mutationen (Sequenzana­lysen) Infektkett­en aufklären, was manchmal sinnvoll sein kann (molekulare Epidemiolo­gie). Man kann so sogar eine Art „Stammbaum“von SarsCoV-2 erstellen. Jemand könnte jetzt einwenden, dass bei Influenzav­iren doch gefährlich­ere Mutanten entstehen können. Das stimmt, liegt aber daran, dass Influenzav­iren einen Mechanismu­s nutzen können, der Sars-CoV-2 nicht zur Verfügung steht. ist Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion am Robert Koch-Institut. Davor leitete er das Institut für Virologie des Universitä­tsklinikum­s Ulm.

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FOTO: MICHAEL SCHEYER „Es besteht die große Gefahr, dass Deutschlan­d und die EU in eine Sandwichla­ge zwischen den USA und China geraten“, sagt Michael Theurer.
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NACHGEFRAG­T BEI PROFESSOR Der Virologe Professor Thomas Mertens

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