Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Der aktuelle Kurs bedroht Hunderttausende von Arbeitsplätzen“ „Mutationen sind nicht zielgerichtet“
FDP-Landeschef Michael Theurer über die deutsche Wirtschaftspolitik und die Umfragewerte der eigenen Partei
RAVENSBURG
- Es sind schwierige Zeiten für die FDP. Auf maximal sieben Prozent käme die Partei Umfragen zufolge, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre. „Die FDP dringt mit ihren Themen wie sozialer Marktwirtschaft oder den Freiheitsrechten derzeit nicht so durch, wie wir uns das wünschen“, sagt der Landesvorsitzende der baden-württembergischen FDP, Michael Theurer. Im Gespräch mit Katja Korf kritisiert er zugleich die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Sie gefährde den Einfluss Deutschlands in der Welt.
Herr Theurer, in der vergangenen Woche hat das EU-Parlament die Klimaschutzziele noch einmal verschärft. Ihre Partei hat dagegen votiert. Bremst die FDP beim Klimaschutz?
Im Gegenteil, wir wollen das Klima schützen durch einen verbindlichen CO2-Deckel und einen funktionierenden Emissionshandel. Dabei gibt der Staat vor, wie viel CO2 ausgestoßen werden darf. Wer das klimaschädliche Gas ausstoßen will, muss dafür Zertifikate erwerben. In den Sektoren, in denen der Emissionshandel bereits läuft, erreichen wir die Klimaziele. Deswegen müssen wir ihn ausdehnen auf die anderen Bereiche wie Verkehr und private Haushalte. Es bringt gar nichts, ständig die Klimaziele zu verschärfen. Wir müssen daran arbeiten, die bestehenden Ziele zu erreichen. Man sagt ja auch keinem Läufer, der die 1000 Meter kaum schafft, er soll jetzt mal 10 000 Meter laufen.
Um das Klima zu schützen, zahlen Bund und Land unter anderem hohe Prämien für Elektrofahrzeuge. Ist das eine gute Unterstützung für das Autoland Baden-Württemberg?
Prämien haben bisher schon nicht dazu geführt, dass batteriebetriebene Elektroautos reißenden Absatz finden. Die CDU-geführte Bundesregierung zerstört gerade mit der CDU-geführten EU-Kommission die deutsche Automobilindustrie. Und zwar durch ihre einseitige Fixierung auf batteriebetriebene Elektromobilität. Wir als FDP fordern stattdessen Technologieoffenheit, vor allem für Wasserstoff-Brennstoffzellen und synthetische Kraftstoffe.
Sogar CSU-Chef Söder will Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren ab 2035 nicht mehr zulassen. Wie lange brauchen wir diese Motoren noch?
Herr Söder ist hier auf dem Holzweg. Das Verbot des Verbrennungsmotors muss verboten werden. Der Weg der FDP ist es, stattdessen den Verbrennungsmotor durch klimaneutrales, synthetisch hergestelltes Benzin und Diesel zukunftsfähig zu machen. Weltweit fahren über eine Milliarde Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Wenn wir die mit synthetischen Brennstoffen klimaneutral betreiben, ist dem Weltklima besser gedient als mit ein paar batteWelt. riebetrieben Elektroautos mehr in Deutschland. Das hätte auch den Vorteil, dass Millionen von Jobs gerettet werden könnten. Der aktuelle Kurs bedroht Hunderttausende von Arbeitsplätzen in der Automobilindustrie und bei den mittelständischen Zulieferern in Baden-Württemberg.
Sie haben vor einigen Tagen kritisiert, Deutschland gefährde gerade seine außenpolitische Stärke. Wie meinen Sie das?
Der globale Einfluss Deutschlands fußt nicht auf seiner Einwohnerzahl oder militärischer Stärke. Er gründet auf unserer Wirtschaftsmacht. Wer unsere Schlüsselindustrie vorsätzlich schwächt, schwächt auch den Einfluss Deutschlands in der Und genau das tun die von CDU und Grünen geführten Regierungen in Bund und Land gerade.
Stichwort globale Perspektive: Die großen Konzerne der Digitalwirtschaft entstehen längst anderswo. Woran liegt das?
Zum einen verschlafen wir in Deutschland seit Jahren die digitale Transformation. Gerade der Staat und seine Behörden hinken gnadenlos hinterher. Zweitens gibt es Hinweise darauf, dass die Entstehung der großen US-Techgiganten im Silicon Valley wie Facebook, Google und Apple, aber vor allem der chinesischen Konzerne Alibaba, Tencent und Baidu durch staatliche Regulierung oder Finanzierung begünstigt wurde. Wir müssen in Deutschland erkennen, dass wir uns in einem Systemwettbewerb befinden. Es besteht die große Gefahr, dass Deutschland und die EU in eine Sandwichlage zwischen den USA und China geraten.
Was kann man aus Ihrer Sicht dagegen tun?
Die Antwort darauf ist, innerhalb der EU noch stärker zusammenzuarbeiten und mit einer Stimme zu sprechen. Vor allem brauchen wir einen Sprint, um den erheblichen Rückstand bei der Digitalisierung aufzuholen. Ich fordere ein europäisches Satellitensystem. Wir müssen uns unabhängiger machen von den Systemen der USA und anderen. In den USA können Unternehmen und Staat mit ihren Satelliten sehen, wer in Ravensburg mit wem im Whirlpool liegt, oder beobachten, wer ein Unternehmen betritt. Damit wird etwa Industriespionage sehr viel einfacher. Die Frage, wer die Hoheit über solche Daten hat, wird entscheidend sein in den kommenden Jahren.
Bei der Bewerbung um Bundesmittel für die Batteriezellenforschung hat Ulm den Kürzeren gezogen gegenüber Münster. Wird der Standort Baden-Württemberg in Berlin schlecht vertreten?
Ja. Die Älteren erinnern sich, wie Baden-Württemberg unter dem Ministerpräsidenten Lothar Späth als Turbo unter den Bundesländern gewirkt hat. Mittlerweile rangiert das Land in wesentlichen Ranglisten etwa in der Bildung oder der Digitalisierung allenfalls noch im Mittelfeld. In der Bundesregierung ist Baden-Württemberg stiefmütterlich vertreten – das Saarland stellt drei Minister, drei kommen aus Bayern und drei aus Nordrhein-Westfalen. Da muss man sich nicht wundern, wenn Fördermillionen nach NRW fließen. Und zwar in den Wahlkreis der Bundesforschungsministerin, die das Geld bewilligt.
In Umfragen im Bund liegt die FDP zum Teil nur knapp über der FünfProzent-Hürde. Liegt das auch am unglücklichen Agieren von Parteichef Christian Lindner?
Die FDP dringt mit ihren Themen wie sozialer Marktwirtschaft oder den Freiheitsrechten derzeit nicht so durch, wie wir uns das wünschen. Aber wir haben uns auf unserem Bundesparteitag neu aufgestellt. Mit Volker Wissing als neuem Generalsekretär besetzen wir wichtige Themen wie die Sicherung von Arbeitsplätzen. Baden-Württemberg als Stammland der FDP wird eine große Rolle im Superwahljahr 2021 spielen. Ich bin mir sicher, dass die FDP mit einem guten Ergebnis hier die Trendwende auch im Bund einleiten kann.
Und wie ist dabei die Rolle von Christian Lindner?
Die Partei steht in großer Geschlossenheit hinter dem Bundesvorsitzenden. Er ist unser bester Mann und wird uns als Spitzenkandidat in den Bundestagswahlkampf führen.
Sie stellen am Samstag in Friedrichshafen ihre Kandidaten für die Bundestagswahl 2021 auf. Weiterhin gibt es sehr wenige Frauen unter den Abgeordneten der FDP in Bund und Land. Ist die FDP eine Altherrenpartei?
Wir haben die zweitjüngste Mitgliederbasis und die jüngste Bundestagsfraktion. Mit der baden-württembergischen Generalsekretärin Judith Skudelny wird auf Platz zwei der Liste eine Frau ganz prominent vertreten sein. Für einen Querschnitt der Gesellschaft attraktiv zu sein, ist aber natürlich eine dauerhaft wichtige Aufgabe. Insofern würde mich schon freuen, wenn mehr Frauen bei uns ein- und antreten.
RAVENSBURG - Viren besitzen die Eigenschaft, sich im Laufe der Zeit zu verändern. Theresa Gnann hat den Ulmer Virologen Professor Thomas Mertens gefragt, was das für das Coronavirus bedeutet.
Herr Mertens, ist Sars-CoV-2 noch das Virus, das wir im Frühjahr kennengelernt haben?
Viren verändern sich durch Mutationen im Genom, das ist normal und findet je nach Virus mehr oder weniger häufig statt. Bei Viren mit einem RNA-Genom (wie SarsCoV-2) ist dies generell häufiger als bei Viren mit DNA-Genom (z. B. Herpesviren). Bei Sars-CoV-2 sind bereits mehr als 100 Mutationen beschrieben worden, aber keine hat bislang gesichert zu einer Veränderung der krank machenden Eigenschaften des Virus (Pathogenität) oder zu einer veränderten Antigenität geführt (Letzteres meint die Veränderung der Erkennungsstellen für das Immunsystem. Dies könnte die Ursache für eine Änderung der Wirksamkeit von Antikörpern oder weiteren Immunmechanismen sein, die aufgrund einer durchgemachten Infektion oder (hoffentlich) Impfung erworben wurden). Mutationen sind spannend und wir wollen uns dazu noch einiges klarmachen. Mutationen, das bedeutet zunächst kleine Veränderungen des Virusgenoms, die deshalb „einfach als Fehler“vorkommen, weil während der Virusvermehrung enorm viel RNA-Ketten (Virusgenome) in der infizierten Zelle hergestellt werden müssen. Dabei wird schon mal ein RNABaustein (Nukleotid) versehentlich ausgetauscht. Natürlich können nur Mutationen im Genom toleriert werden, die eine weitere Virusvermehrung zulassen. Mutationen sind nicht zielgerichtet. Sie sind für uns nur wichtig, wenn sich zufällig die Übertragbarkeit, die Pathogenität oder die Antigenität des mutierten Virus verändert. Ob sich ein mutiertes Virus „durchsetzt“, also schneller verbreitet, hängt sehr davon ab, ob das Virus einen „Vorteil“von der Mutation hat. (Man nennt dies Selektionsvorteil.) Von stärker krank machenden Eigenschaften hat ein Virus keinen Vorteil, denn es „will“nur vermehrt und übertragen werden, aber ein schnell getöteter Wirt ist eher ungünstig. Man hat also wenig Sorgen, dass eine solche SarsCoV-2-Mutante auftreten könnte. Einen Selektionsvorteil hätten Viren, die sich viel stärker vermehren können und leichter übertragen werden. Aber auch, wenn sie von einer bestehenden Immunität nicht mehr erfasst werden würden. Ein mutiertes Sars-CoV-2, das sich besser vermehren und möglicherweise besser verbreiten kann, ist gefunden worden, aber es unterscheidet sich nicht hinsichtlich Pathogenität und Antigenität von den anderen Sars-CoV-2. Es gibt auch eine erste Mitteilung darüber, dass es eine Sars-CoV-2-Mutante geben könnte, die weniger krank macht. Das muss aber noch bestätigt werden. Virusmutanten bieten einen diagnostischen Vorteil. Man kann durch Untersuchung auf Mutationen (Sequenzanalysen) Infektketten aufklären, was manchmal sinnvoll sein kann (molekulare Epidemiologie). Man kann so sogar eine Art „Stammbaum“von SarsCoV-2 erstellen. Jemand könnte jetzt einwenden, dass bei Influenzaviren doch gefährlichere Mutanten entstehen können. Das stimmt, liegt aber daran, dass Influenzaviren einen Mechanismus nutzen können, der Sars-CoV-2 nicht zur Verfügung steht. ist Vorsitzender der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut. Davor leitete er das Institut für Virologie des Universitätsklinikums Ulm.