Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Viele Widersprüche bei Strafprozess
Vorwurf des versuchten Totschlags: Angeklagter und Zeugen haben Erinnerungslücken
Wer würde sich nicht wünschen, ein Oktopus zu sein? Was könnte man mit acht Armen anstellen! Der eine telefoniert, der andere schreibt, der dritte fotografiert, der vierte macht den Abwasch. Doch der Mensch ist arm an Armen. Da hilft nur der Pragmatismus der alten Volksweise: „Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt, flög ich zu dir. Weil’s aber nicht sein kann, bleib ich all hier.“
RAVENSBURG/TETTNANG - Ein 37Jähriger iranischer Abstammung hat sich am Dienstag vor dem Schwurgericht am Landgericht Ravensburg unter anderem wegen versuchten Totschlags verantworten müssen. Die Verhandlung wird am Mittwoch fortgesetzt. Ihm wird vorgeworfen, am 2. Oktober 2019 in der Asylunterkunft in der Wilhelmstraße in Tettnang zwei Männer angegriffen und verletzt zu haben sowie am selben Tag an der gegenüberliegenden Tankstelle erneut eine Schlägerei mit Körperverletzung begonnen und bei der Festnahme eine Polizeimeisterin ins Gesicht getreten zu haben. Außerdem wird ihm zur Last gelegt, am 21. Oktober an der gleichen Tankstelle mit einem Mann in Streit geraten zu sein und ihn anschließend mit voller Wucht mit faustgroßen Steinen beworfen zu haben, womit er die Möglichkeit der Tötung billigend in Kauf genommen habe.
Nach einem Verfahren am Amtsgericht Tettnang hatte Richter Max
Märkle beschlossen, den Fall an das Landgericht Ravensburg zu übergeben, da es sich bei der Tat nicht um gefährliche Körperverletzung, sondern um versuchten Totschlag handle. Seit Oktober 2019 sitzt der Angeklagte wegen weiterer Vergehen in Haft.
Der Angeklagte wurde in Fußfesseln in den Sitzungssaal geführt. Der iranische Staatsangehörige stammt eigenen Angaben nach aus geordneten Verhältnissen, habe eine gute Erziehung genossen und das Abitur in einer Abendschule erworben, nebenher machte er eine Ausbildung zum Industrieelektriker. Danach habe er im Iran als Maler gearbeitet und sei 2013 mit dem Flugzeug nach Italien ausgereist. Von Italien sei er in die Niederlande gereist, wo er gern geblieben wäre. Doch sein Asylantrag wurde abgelehnt, und er musste nach Italien zurück. Er reiste dennoch erneut in die Niederlande, danach nach Belgien, tauchte unter und kam im April 2015 nach Tettnang.
Eine zeitlang habe er als Bauhilfe gearbeitet, dann sei er krank geworden. Nach weiteren Stationen habe er vom Landratsamt Bodenseekreis eine Duldung erhalten. Am Bahnhof in Ravensburg und an einem Lebensmitteldiscounter in Oberuhldingen habe er schließlich getrunken, randaliert und Frauen belästigt.
Schon im Iran habe er ein massives Drogenproblem gehabt. Zwischendurch sei er zwei Jahre lang clean gewesen, dann sei es mit Alkohol und Gras wieder losgegangen. „Haben Sie etwas genommen, seit sie in Haft sind, fragte der Vorsitzende Richter Veiko Böhm den Angeklagten. Dieser verneinte und sagte, er wolle eine längere Therapie beginnen, was sich laut einem Sachverständigen als schwierig erweisen wird, da der Angeklagte aufgrund eines abgelehnten Asylantrags nicht in Deutschland bleiben kann.
Dann kam Richter Böhm auf die Steinwürfe zu sprechen. Das Ganze spielte sich vor der Tankstelle ab, auf deren Gelände der Angeklagte Hausverbot hat, was er allerdings ständig ignorierte. Bei der Verhandlung beteuerte er, nicht auf den Kopf gezielt zu haben, sondern er habe die Beine des Mannes treffen wollen. Da er stark alkoholisiert war, könne er sich allerdings an vieles nicht mehr erinnern.
Der Geschädigte, der mit seinem Kollegen die Tankstelle aufgesucht hatte, erklärte, dass der Angeklagte von ihm Geld haben wollte. Als er ablehnte, habe dieser ihn beleidigt, und es sei zu einem Gerangel gekommen. Später habe der Angeklagte die Steine geholt. Ein Video aus der Überwachungskamera der Tankstelle dokumentiert das. Laut Geschädigtem hatten sich einige Schaulustige versammelt, die jedoch nichts taten. So auch der Kollege, der sich „in die Sache der Beiden nicht einmischen wollte“.
Anfang Oktober hatte der Angeklagte an derselben Tankstelle von der Polizei einen Platzverweis erhalten. Beim stark alkoholisierten Mann sollte auf der Rückbank des Streifenwagens ein Alkoholtest durchgeführt werden. Als die 21-jährige Polizeimeisterin die Autotür öffnete, schrie der Mann sie an und wollte flüchten. Die Frau versuchte, ihn in das Auto zurückzudrücken, da habe sich der Angeklagte nach hinten fallen lassen und sie mit den Schuhen ins Gesicht getreten, wobei sie eine Gehirnerschütterung zweiten Grades sowie Prellungen im Gesicht und am Arm erhielt, die sie im Krankenhaus behandeln lassen musste. Erst, als ein Kollege mit Pfefferspray eingriff, habe der Angeklagte aufgehört, sagte die Polizistin. Reumütig beteuerte der Angeklagte, er habe gedacht, er trete einen Mann. Die Frau hätte er nicht verletzen wollen.
Langwierig gestaltete sich die Wahrheitsfindung bei der Schlägerei in der Asylunterkunft aufgrund der Sprachprobleme. Ein Schlag mit der Bierflasche stellte sich als Schlag mit einer „Dosenflasche“heraus – auch für die Dolmetscher eine Herausforderung. Angeklagter und Zeuge schoben sich gegenseitig die Schuld zu, wer zuerst geschlagen habe.
Neun Stunden zog sich dieser erste Verhandlungstag hin. Die Aussagen von zehn Zeugen waren zu hören, doch vieles war widersprüchlich und blieb noch im Unklaren.