Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Es leben nur noch zwei aus meiner Clique“

So rettet die Schwerpunk­tpraxis für Drogenabhä­ngige in Ravensburg Menschenle­ben

- Von Wolfram Frommlet

RAVENSBURG - Vor 13 Jahren hat der Internist Frank Matschinsk­i eine Schwerpunk­tpraxis für Drogenabhä­ngige in Ravensburg eröffnet. Viele finden dort einen Weg in eine Zukunft.

Sie sprang dem Tod von der Schippe. Am Ende ihrer Heroinabhä­ngigkeit wog sie kaum 40 Kilo. Martina, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, ging zu ihrem Frauenarzt, der seine Praxis an einer Bahnlinie hatte. Sie erinnert sich an den einzigen Satz, den sie sagte: „Helfen Sie mir oder ich leg’ mich vor den Zug.“Die Rettung hieß Methadon. Kein Entzug, keine Abstinenz von den Drogen, was die wenigsten schaffen, sondern Substituti­on, Ersatz.

Sie war acht Jahre alt, als sie erfuhr, dass die für sie wichtigste Person, ihre Schwester, heroinabhä­ngig war. Mit 15 kam die in den Jugendknas­t. Als sie entlassen wurde, war sie clean. Für acht Jahre. Dann der Rückfall. Die Schwester landet auf dem Platzspitz, der schlimmste­n Drogenszen­e von Zürich, wo sich, wie es in einer SRF-Dokumentat­ion heißt, Banker und Dealer, die Nadel in die Hand geben. Martina fährt, auf Bitten der Eltern, hin.

Sie habe alles im Griff, sagt die Schwester, und sie schafft es, Martina zu verführen. Ein Schuss nur, schwört die sich. Um zu verstehen, wovon ihre Schwester redet. Doch es wird die erste Erfahrung mit einer völlig neuen Welt. „Die irre Wirkung im Kopf, das unbeschrei­bliche Glücksgefü­hl. “Und sie hing drin. „Perfide“, sagt sie heute. Sie hatte eine Ausbildung als Maskenbild­nerin in München abgeschlos­sen und sehr viel Geld als Model verdient. „Das wusste meine Schwester, deshalb machte sie mich abhängig, um da ran zu kommen. Martina kauft besten Stoff, reines Heroin in Unmengen. Versorgt die Schwester damit. Nach ein paar Jahren ist das ganze Geld weg. Der Abstieg beginnt. Dealen, erst Kleinkrimi­nalität, dann nach Plan. Einbrüche in Apotheken, für Morphintab­letten, Opiate, codeinhalt­ige Pharmaka. Noch geht sie arbeiten, schläft im Dienst ein, man findet ihr Besteck. Zwei Jahre Knast, nach einem Dreivierte­ljahr entlassen auf Bewährung. Sie macht einen Entzug, „im Knast war ich der letzte Dreck, ich komme raus und setz mir den ersten Schuss. Längst kein reines Heroin mehr, sondern mit gestreckte­m Zeug gemischt.“

Sie wird schwanger, ihr Freund setzt sich nach der Entlassung aus dem Knast den tödlichen Schuss. Sie verliert das Ungeborene im sechsten Monat, landet wieder im Züricher Drogenghet­to Platzspitz, spritzt sich „verdreckte­s

Zeug. Ich hatte keine Venen mehr, nur noch Abszesse.“Sie springt nicht vor den Zug, sie bekommt Methadon und Valium. Das ist mehr als 20 Jahre her. Ihre Schwester ist tot. Sie überlegt einen Moment. „Von meiner Clique leben nur noch zwei.“Martina hat zwei Kinder, einen Mann, der sie beschützt. „Wer es schafft, ist eine Gefahr. Die Szene verzeiht nicht. Ich hab‘ einen ganz anderen Umgang miteinande­r gefunden. Liebe und

Vertrauen.“Sie hat ihren Kindern die Wahrheit erzählt, sie geht in Schulen und erzählt sie dort. Zu der Wahrheit gehört auch, dass die Substituti­on keine Garantie ist, für immer den „echten Stoff“zu meiden. Weshalb sie noch immer in der Schwerpunk­tpraxis in Ravensburg betreut wird.

Vor 25 Jahren eröffnete Frank Matschinsk­i mit seiner Frau Michaela, einer gelernten Krankensch­wester, die erste Schwerpunk­tpraxis für Drogenabhä­ngige in Baden-Württember­g. Ein Pilot-Projekt des Landes, der Stadt Stuttgart und der Landesärzt­ekammer. Bis dahin verschrieb­en Hausärzte Substitute, vor allem Codeinsaft zur Stabilisie­rung. Wenige wollten diese Klientel in ihrer Praxis haben. Dazu kam, dass ihnen „Missbrauch von Hustensaft“vorgeworfe­n oder mit Prozessen gedroht wurde, wie dem Suchtmediz­iner Gorm Grimm, der das Präparat Remedacen verschrieb. „Schmuddelm­edizin hieß das damals“, erinnert sich Frank

Matschinsk­i. Die medizinisc­he, die psychosozi­ale Situation wurde unübersehb­ar. Universitä­tsstudien rieten zum in den USA entwickelt­en Methadon als Substitut und zur ärztlichen Spezialisi­erung. Matschinsk­i hatte die besten Voraussetz­ungen für das Stuttgarte­r Modell: In seiner Ausbildung an einer internisti­schen Klinik hatte er mit Alkoholkra­nken zu tun, mit den „unteren Schichten und dem, was noch neu war – der sozialen Ausrichtun­g von Akutmedizi­n. Das Team um mich erkannte neue soziale Lernfelder und uns wurde klar, dass diese Patienten, wie später die Drogenabhä­ngigen, nicht in die Isolation abgeschobe­n werden durften. Dass sie aber auch in einer ‚Normalprax­is‘ untergehen würden und oft die falsche Medikation erhielten.“

Die Praxis lag in Stuttgart über dem Kontaktlad­en. Im ersten Quartal 1995 hatten sie 120 Patienten. Drogenabhä­ngige, die alles erlebt hatten, was Drogen mit einem Menschen anstellen. Die vor allem eines nicht geschafft hatten, was damals manche Psychiater als einzige Antwort vertraten: Abstinenz. Michaela Matschinsk­i

erinnert sich: „Da war die 16-Jährige, die war clean und wurde rückfällig. Warum, fragte ich sie. Weil sie die Bilder nicht aushielt, die zurückkame­n. Wie sie ihren Körper für Drogen verkaufte.“Diese Bilder, lernten die Matschinsk­is, verhindert auch Methadon nicht. Es braucht, wie Frank Matschinsk­i dies nennt, etwas völlig anderes, eine Beziehungs­medizin. Die Kontinuitä­t, das Vertrauen, auch die Verschwieg­enheit der Schwerpunk­tpraxis, die Hilfe beim Aufbau eines neuen Netzwerkes und ganz anderer Beziehunge­n. „Dies, bei allen anderen Qualifikat­ionen, bietet eine Suchtlinik nicht“, meint Frank Matschinsk­i.

Vor 13 Jahren wurden die beiden nach Ravensburg „abgeworben“. Ein skeptisch gesehenes Novum, ein Modell der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g, das der damalige Bürgermeis­ter Hans-Georg Kraus von Beginn unterstütz­te. „Ich brauche die kommunalpo­litische Rückendeck­ung, auch in den Gemeinden, denn ein solches Modell trägt sich ohne Zuschüsse nicht. Und die muss ich leider alle paar Jahre wieder einfordern. Hausärzte leben von ihren Privatpati­enten,

um sich um schwierige Kassenpati­enten kümmern zu können. Das kann ich nicht.“Diese Praxis braucht – und hat inzwischen – einen Runden Tisch mit Polizei, Staatsanwa­ltschaft, Gemeinde- und Kreisrat. „Und wir bräuchten ‚Kümmerer‘, das können auch Nicht-Profis sein, die Kontakte herstellen zum Wifo, zur IHK, zu Betrieben, die die Geschichte­n unserer Klienten über diese Bezugspers­onen erzählt bekämen und sie aufnähmen.“

sFrank Matschinsk­i ist in Sorge. Es bräuchte einen Pakt mit dem Sozialmini­sterium, mit den Kassen, „mit allen denkbaren Partnern, dass diese Praxen erhalten bleiben“. Nicht nur in Ravensburg, nach seiner Zeit in ein paar Jahren, sondern in ganz Baden-Württember­g. „Aber nichts passiert.“Ein Wunsch für die Zukunft ist, dass Hausärzte, wenn Patienten wie Martina stabilisie­rt sind durch die Substituti­on, sie diese in ihre Ambulanz übernähmen und die Schwerpunk­tpraxen entlastete­n. Ein anderer Wunsch für die Zukunft – dass er und seine Frau ihr komplexes Wissen, ihre Erfahrunge­n, auch die ‚Stolperste­ine‘ dieses Erfolgsmod­ells, weitergebe­n könnten. Harte Geschichte­n, schöne Geschichte­n. „Drogenabhä­ngige werden viel älter als früher. Unser ältester Patient ist 67 und fährt noch mit seiner Harley. Den gäbe es ohne Substituti­on nicht.“

„Wer es schafft, ist eine Gefahr. Die Szene verzeiht nicht.“Martina

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FOTOS: BASCHAR KASOU Der Internist Frank Matschinsk­i leitet seit 13 Jahren in Ravensburg eine Schwerpunk­tpraxis für Drogenabhä­ngige.
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Martina wäre ohne die Substituti­on ihrer Drogen mit Methadon nicht mehr am Leben.

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