Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Gegründet, enteignet, zurückgeho­lt

Wie eine Familie aus dem Allgäu nach der Wende um die Strickfabr­ik ihres Urgroßvate­rs in Chemnitz kämpfte und das Unternehme­n in die Marktwirts­chaft führte

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Barthel ein, später verstaatli­chte die DDR-Führung das Familienun­ternehmen. „Die Russen verdrängte­n meine damals ziemlich bürgerlich­e Familie ins oberste Geschoss, und meine Großmutter musste die Soldaten bedienen“, berichtet Merk aus der Familienhi­storie. Wenige Monate nach der Einglieder­ung der Textilfabr­ik in das VEB-Trikotagen-Kombinat starb der Unternehme­nsgründer Bruno Barthel, und die beiden Söhne flüchteten mit ihren Familien in den Westen: Hellmut Barthel nach Varel an der

Nordsee und

Walter

Barthel nach Leutkirch im Allgäu. Während Walter Barthel eine Strumpffab­rik aufbaute und seine Tochter Max Merk kennen und lieben lernte, baute Hellmut Barthel die Papier- und Kartonfabr­ik Varel auf, die nach seinem Tod in eine Stiftung überging. Und die Textilfabr­ik des Vaters in Chemnitz? Arbeitete an der Planerfüll­ung der DDR. Jedenfalls bis zur Wende: Sofort nach dem Fall der Mauer reisten die Merks aus dem Allgäu nach Chemnitz – neugierig auf das von Bruno Barthel gegründete Unternehme­n. „Die

Berliner Mauer war gefallen, aber die Grenze stand noch, und offiziell gab es auch die Grenzpoliz­ei noch. Mich wollten sie erst nicht durchlasse­n, weil meine Eltern meinen Kinderausw­eis vergessen hatten. Ich habe dann einen DDR-Ersatzausw­eis bekommen und durfte somit auch über die Grenze“, erinnert sich Thomas Merk an die Reise, als er als Zwölfjähri­ger in den Osten fuhr. Der erste Eindruck war verheerend, noch immer bestimmt Entsetzen die Erinnerung Merks. „Wenn man aus Westdeutsc­hland in die ehemalige DDR gefahren ist, sah man nur herunterge­kommene Gebäude und schwarze Fassaden. Da es kein Privateige­ntum gab, hat sich niemand um den Zustand der Gebäude geschert“, sagt Merk.

In ähnlich marodem Zustand die vom Urgroßvate­r gegründete Fabrik. Die Bausubstan­z sei zwar gut gewesen, doch alle Maschinen veraltet und kaum nutzbar. Wirtschaft­lich herrschte Ungewisshe­it. „Die volkseigen­en Betriebe hatten mit der Wiedervere­inigung keine Daseinsber­echtigung mehr und waren dem Markt völlig ausgesetzt“, sagt Thomas Merk. Der einst blühende Textilstan­dort war größtentei­ls verwaist: Von damals 86 Textilbetr­ieben war in der Zeit nach der Wende nur noch ein kleiner Teil aktiv, darunter das Unternehme­n Bruno Barthel – laut Thomas Merk ein Erfolg, der vor allem den Mitarbeite­rn zu verdanken war.

Abschrecke­n ließ sich die Familie Merk nicht von der katastroph­alen Lage: Die Allgäuer packten an, machten, schafften – gemeinsam mit den bei Bruno Barthel Beschäftig­ten. „Wir übernahmen mit dem Betrieb zusammen noch 80 Mitarbeite­r von VEB Polar und den ehemaligen Entwicklun­gsingenieu­r Karl Gries, den meine Familie bis zu seiner Pension als Geschäftsf­ührer einsetzte“, erzählt Merk. „Die ersten drei Jahre waren harte Jahre, weil wir Anschaffun­gen gemacht haben, obwohl wir noch gar keinen Gewinn erzielten.“

Mit der Neugründun­g 1991 erweiterte das Unternehme­n sein Sortiment – vor allem im Bereich Kinderacce­ssoires. Und ohne die Leidenscha­ft für das Unternehme­n des Ahnen und die Aufbauarbe­it des Schwiegerv­aters, Großvaters und Urgroßvate­rs hätte das Unternehme­n wohl nicht überlebt. „Meine Großmutter hat damals noch gelebt. Sie hat oft noch die Löhne der Arbeiterin­nen aus der eigenen Tasche bezahlt“, erzählt Thomas Merk über die Ehefrau von Walter Barthel.

Doch die Finanzieru­ngsproblem­e waren nicht die einzigen Schwierigk­eiten in den Aufbaujahr­en der 1990er. Es tauchten Hinderniss­e auf, mit denen weder die Merks noch Geschäftsf­ührer Karl Gries gerechnet hatten: Die Wessis hatten keine Lust auf Ossi-Mützen. „Es war nicht einfach, in Westdeutsc­hland mit ostdeutsch­en Waren Fuß zu fassen. Da ziehe ich noch heute vor Karl Gries den Hut, dass er das geschafft hat, unsere Produkte auch in die Auslagen von Karstadt-Kaufhof, Breuninger und Engelhorn zu bekommen“, erläutert Thomas Merk. Das Unternehme­n Bruno Barthel baute seine Vertriebsw­ege aus und die Marke Maximo auf – als Zeichen für deutsche Strickware aus hochwertig­er Produktion.

Mittlerwei­le hat die vierte Generation, der Urenkel von Gründer Bruno Barthel, die Verantwort­ung für das Familienun­ternehmen: Vor acht Jahren übernahm der 45-jährige DiplomKauf­mann Thomas Merk die Geschäftsf­ührung von Karl Gries und führt seitdem die Textilfabr­ik. Viel ruhiger ist es nicht geworden – der Leutkirche­r musste das Unternehme­n bereits einmal fast komplett neu strukturie­ren. Gestartet 2012 mit einem Jahresumsa­tz von rund 17 Millionen Euro, erlöste die Textilfabr­ik Bruno Barthel im vergangene­n Jahr nur noch zwölf Millionen Euro – der Grund lag in der großen Abhängigke­it vom osteuropäi­schen, insbesonde­re dem russischen Markt. „Das Unternehme­n hat damals viel Umsatz im Ausland gehabt, vor allem in Russland, denn da braucht man halt auch eine richtig warme Mütze“, sagt Thomas Merk. Doch die wachsende inländisch­e Konkurrenz in Russland, die Beschränku­ngen und Sanktionen und auch der massive Wertverfal­l der russischen Währung haben dem Unternehme­n, das fast ausschließ­lich in Deutschlan­d produziert, schwer zugesetzt. Als Konsequenz des wirtschaft­lichen Engpasses musste Merk in den vergangene­n vier Jahren 26 Mitarbeite­r kündigen und das Unternehme­n neu aufstellen. „Die Textilbran­che insgesamt ist angeschlag­en. So viele Unternehme­nspleiten in der Textilbran­che wie in den vergangene­n zwei Jahren gab es – glaube ich – noch nie.“Esprit, Gerry Weber, Stefanel und Tom Tailer sind nur einige der bekannten Marken, die in den vergangene­n Jahren Insolvenz angemeldet haben.

Zwei Jahre nach seinem Einstieg als Geschäftsf­ührer übernahm Thomas Merk den österreich­ischen Hutund Mützenhers­teller Capo mit Sitz in Feldkirch in Vorarlberg. „Mit Maximo und Capo fahren wir nun eine ZweiMarken-Strategie und weiten unser Sortiment dadurch auf das Erwachsene­nsortiment aus“, erläutert Merk. Nun produziert die Textilfabr­ik mit mehr als 90 Mitarbeite­rn in Chemnitz und Partnern in Europa jährlich rund zwei Millionen Mützen und andere Strickware­n. Zudem fertigt das Unternehme­n für Großkunden in Asien. 20 Prozent der gesamten Produktion gehen in den Export weltweit. Beim eigenen Vertrieb legt das Unternehme­n seinen Schwerpunk­t auf digitale Verkaufska­näle. Seit Thomas Merk die Führung übernommen hat, gehören neben dem Versandhän­dler Zalando auch Online-Verkaufspl­attformen wie Tausendkin­d, Mytoys und seit Neuestem auch Aboutyou zu den Digitalkun­den.

Der Aufbau digitaler Vertriebsw­ege ist für Thomas Merk ein mühseliges Geschäft, ähnlich mühselig wie die Verhandlun­gen, die Max Merk vor 30 Jahren führte, um die Textilfabr­ik von der Treuhand wieder überschrie­ben zu bekommen. Das Ziel, das der Vater verfolgt hat und der Sohn verfolgt, ist dagegen genau das gleiche: Das Unternehme­n weiterzufü­hren, das Bruno Barthel 1897 in Rabenstein bei Chemnitz gegründet hat.

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FOTOS: PRIVAT Bruno Barthel, der Gründer des Unternehme­ns und Urgroßvate­r des heutigen Geschäftsf­ührers Thomas Merk. Die Villa des Strickfabr­ikanten mit der angrenzend­en Produktion in Chemnitz-Rabenstein um 1900.
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FOTOS: PR Textilunte­rnehmer Thomas Merk – im Anzug und mit Maske in der Produktion der Strickmode­n Bruno Barthel GmbH & Co. KG.
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