Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Schwäbische Richter verhandeln auf Englisch
Ein neues, speziell auf Wirtschaftsfragen ausgelegtes Gericht nimmt in Baden-Württemberg seine Arbeit auf
Gerichten bei komplexen Wirtschaftsstreitigkeiten oft sehr lange. Zudem sind viele Gerichte technisch nicht ausreichend ausgestattet, um beispielsweise Videokonferenzen durchzuführen – was viele global agierende Unternehmen aber voraussetzen. In internationalen Handelsstreitigkeiten fehlt den Firmen an hiesigen Gerichten außerdem die Verhandlungsführung in englischer Sprache.
Der neue Commercial Court soll hier Abhilfe schaffen: Die Richter sind laut Justizministerium nicht nur ausgewiesene Experten im Wirtschaftsrecht, sie sind auch in der Lage, die Verhandlungen auf Englisch zu führen. Auch englischsprachige Dokumente können in die Prozesse einbezogen werden, ohne vorab aufwendig übersetzt zu werden. Außerdem soll es möglich sein, den Verfahrensverlauf terminlich genau zu organisieren und Sachverhalte in Videokonferenzen vorzubesprechen, um den Prozess selbst nicht in die Länge zu ziehen. Dafür will der Commercial Court auch mehrtägige Verhandlungen und Beweisaufnahmen am Stück anbieten. „Wir kombinieren so weit wie möglich die Vorzüge der privaten Schiedsgerichtsbarkeit mit der Verlässlichkeit, Unabhängigkeit und Vertrauenswürdigkeit der staatlichen Gerichte“, sagte Cornelia Horz, Präsidentin des Oberlandesgerichts.
Dafür wurde umfangreich investiert. Die Kammern sind personell so ausgestattet, dass Verfahren regelmäßig in Dreierbesetzung verhandelt werden können. Drei neue Richterstellen wurden dafür geschaffen, die restlichen Richter wechselten vom Landgericht Stuttgart an den Commercial Court. Sie arbeiten fortan in den erst kürzlich fertiggestellten Räumlichkeiten im Campus Fasanenhof im Stuttgarter Süden. Nicht zufällig liegt das Objekt in unmittelbarer Nähe zum Flughafen – nationale und internationale Geschäftsmänner sollen so einfach wie möglich anreisen können. In dem Neubau besetzt das Gericht eine komplette Etage über 1600 Quadratmeter mit drei Sitzungssälen und Räumen für die verschiedenen Parteien. Technisch ist laut Justizminister Wolf alles auf dem neuesten Stand. Das ermögliche zum Beispiel eine elektronische Aktenführung und Videokonferenzen.
Der Bedarf für ein solches Gericht ist da, denn gerade die internationalen Streitverfahren nehmen zu. In Baden-Württemberg gibt es viele Mittelständler, die Vertragsbeziehungen mit Unternehmen auf der ganzen Welt haben. Justizminister Wolf erhofft sich vom Commercial Court deshalb auch einen Standortvorteil für das Land. „Wir haben hier im Bereich Maschinenbau und in der Automobilindustrie Firmen, die Weltmarktführer sind. Und die müssen sich auf kurze Wege und ein effizientes System verlassen können“, so Wolf.
Das Gericht ist dabei nicht nur für Firmen in Stuttgart oder Mannheim gedacht. Denn in wirtschaftsrechtlichen Zivilrechtsstreitigkeiten können sich Unternehmen prinzipiell aussuchen, vor welchem Gericht sie ihren Rechtsstreit führen wollen. Bekannt dafür ist etwa der London Commercial Court – laut Wolf ein erklärtes Vorbild für die neuen Wirtschaftskammern in Stuttgart und Mannheim. Der London Commercial Court verhandelte in der Vergangenheit zahlreiche komplexe internationale Handelsstreitigkeiten mit besonders hohen Streitwerten.
„Nach dem Brexit wird das Gericht aber an Attraktivität verlieren. Unser Commercial Court kommt also zum richtigen Zeitpunkt“, sagte Justizminister Wolf.
Es bestehe ein internationaler Wettbewerb um die Streitbeilegung gerade in großen Wirtschaftsverfahren. Die Vizepräsidentin des BadenWürttembergischen Industrie- und Handelskammertags (BWIHK), Marjoke Breuning, lobte deshalb die Eröffnung des ersten deutschen Commercial Court. „Dass die Wahl auf den Südwesten mit den Standorten Stuttgart und Mannheim gefallen ist, begrüßen wir sehr“, so Breuning.
Das Land erhofft sich indes noch einen weiteren Vorteil vom Commercial Court: Er soll die Rechtsfortbildung beim Wirtschaftsrecht wieder ankurbeln. Gerichte legen Gesetze aus, entscheiden also darüber, wie bestimmte Paragrafen zu verstehen sind – woran sich andere Richter dann wiederum orientieren. Geschieht die Rechtsprechung aber in privaten Schiedsgerichten, geht dieses Wissen verloren. „Dies beklagt selbst die Schiedsgerichtsbarkeit, die sich bei ihren Schiedssprüchen natürlich an der Rechtsprechung staatlicher Gerichte orientiert“, erklärt Cornelia Horz.
Seinen ersten Fall hat das Gericht übrigens am Donnerstag: Dann verhandeln die Richter den Fall einer aufgelösten Band, die sich um Rechte streiten. Um hohe Summen geht es dabei noch nicht – doch das ändert sich bald. Bereits jetzt stehen am Commercial Court laut Andreas Singer, Präsident des Stuttgarter Landgerichts, zwei Prozesse an, in denen es um zweistellige Millionensummen geht.