Schwäbische Zeitung (Tettnang)
EU zieht Lehren aus Corona-Pandemie
Kommission will die Gesundheitspolitik ihrer Mitglieder besser koordinieren
BRÜSSEL - Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“startet Aufrufe meist wegen dramatischen Notlagen in Regionen der sogenannten Dritten Welt. Dieses Mal aber sucht sie Ärzte und Pfleger für Senioreneinrichtungen in der Region Paris. Das Personal dort sei bereits in der ersten Welle der CoronaPandemie durch ständige Überforderung traumatisiert worden und brauche nun Unterstützung von Freiwilligen, heißt es in dem Aufruf der Organisation.
Überfüllte Intensivstationen, übermüdetes Pflegepersonal – was bereits im Frühjahr Deutschlands Nachbarländer Frankreich und Italien deutlich härter traf, scheint sich nun zu wiederholen. Grenzüberschreitende Solidarität gibt es zwar – aber nur von Fall zu Fall, auf freiwilliger Basis. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, selbst Medizinerin, will mehr Kompetenzen für die Gesundheitsversorgung auf die europäische Ebene holen. In den vergangenen Monaten hatte sie bereits initiiert, dass Pharmafirmen, die an vielversprechenden Impfstoffen arbeiten, nicht mit einzelnen Ländern, sondern mit der Europäischen Union Verträge schließen. Am Mittwoch stellte ihre Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides die Pläne für eine „Europäische Gesundheitsunion“vor.
„Zersplitterung macht alle Mitgliedsstaaten verwundbar“, so die Kommissarin Kyriakides. „Das Jahr 2020 sollte nicht nur als das Jahr mit der gravierendsten Gesundheitskrise in die Annalen Europas eingehen, sondern als das Jahr, wo wir anfingen, aufeinander zu hören.“Der mit Pfizer/Biontech geschlossene Vertrag über 300 Millionen Impfdosen sei nur ein Beispiel dafür, dass auf europäischer Ebene erreicht werden könne, was einem einzelnen Mitgliedsstaat nicht gelinge.
Im Kern geht es im am Mittwoch vorgelegten Paket darum, die Impfforschung, die Schulung des medizinischen Personals für Krisen, mögliche Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge sowie die Vorratshaltung auf EU-Ebene zu koordinieren. Die Forderung ist nicht neu. Schon Romano Prodi, der Vor-Vor-Vorgänger der aktuellen Kommissionspräsidentin von der Leyen, arbeitete an entsprechenden Vorschlägen. Sie scheiterten bislang stets daran, dass viele Mitgliedsstaaten die entsprechenden
Zuständigkeiten nicht mit Brüssel teilen wollen und jede Vertragsänderung Einstimmigkeit erfordert.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kommentierte die gute Nachricht von Biontech aus Mainz mit den Worten, Deutschland hätte sich den Impfstoff natürlich auch im Alleingang sichern können, setze aber auf eine koordinierte Verteilung im europäischen Rahmen. Wie der Arzt und CDU-Europaabgeordnete Peter Liese am Mittwoch der „Schwäbischen Zeitung“sagte, ist mit einer europäischen Zulassung spätestens im Januar zu rechnen. Andere sind weniger optimistisch. Hollands Ministerpräsident Mark Rutte sagte beim EU-Gipfeltreffen im Oktober: „Wenn es darum geht, die epidemiologische und virologische Krise zu bekämpfen, hat Europa keinen Mehrwert.“Ungarns Premier Victor Orbán scheint das genauso so zu sehen. Er kündigte an, auf Impfstoffe aus russischer und chinesischer Produktion zu setzen.
Da eine Vertragsänderung unter den derzeitigen politischen Konstellationen ausgeschlossen scheint, setzt die EU-Kommission auf freiwillige Koordination. Die zuständigen Agenturen (die Arzneimittelbehörde EMA für die Neuzulassung und die Seuchenkontrollbehörde ECDC für Prävention und Kontrolle von Krankheiten) sollen aufgewertet werden. So soll EMA künftig mögliche Engpässe in medizinischer Ausrüstung und bei Impfstoffen und Arzneien feststellen und beheben, klinische Studien zu neuen Heilmitteln koordinieren und Mitgliedsstaaten beim Einsatz von Medikamenten beraten. ECDC soll um eine Task Force erweitert werden, die Mitgliedsstaaten zur Seite steht, die von einer Gesundheitskrise überfordert sind.
Peter Liese lobt, dass es der EU nach dem neuen Gesetz möglich sein soll, den Gesundheitsnotstand auszurufen. „Dies ist wirklich notwendig. Bei der Covid-19-Pandemie haben wir uns zu sehr auf die Weltgesundheitsorganisation WHO verlassen. Meiner Meinung nach hat die WHO unter dem Druck Chinas den Gesundheitsnotstand zu spät erklärt“, so Liese.
Damit diese Pläne praktisch umgesetzt werden können, braucht es zweierlei: Die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten zu mehr Koordination und Datenaustausch und zusätzliche finanzielle Mittel. Dass die Mitgliedsstaaten das Gesundheitsbudget der Kommission von ursprünglich 9,4 auf 1,7 Milliarden Euro zusammenstrichen, stimmt da nicht optimistisch. In Nachverhandlungen konnte das EU-Parlament zwar etwas mehr als fünf Milliarden herausschlagen – was aber angesichts der Kosten für präventive Gesundheitspolitik noch immer viel zu wenig ist.