Schwäbische Zeitung (Tettnang)

EU zieht Lehren aus Corona-Pandemie

Kommission will die Gesundheit­spolitik ihrer Mitglieder besser koordinier­en

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Die Hilfsorgan­isation „Ärzte ohne Grenzen“startet Aufrufe meist wegen dramatisch­en Notlagen in Regionen der sogenannte­n Dritten Welt. Dieses Mal aber sucht sie Ärzte und Pfleger für Seniorenei­nrichtunge­n in der Region Paris. Das Personal dort sei bereits in der ersten Welle der CoronaPand­emie durch ständige Überforder­ung traumatisi­ert worden und brauche nun Unterstütz­ung von Freiwillig­en, heißt es in dem Aufruf der Organisati­on.

Überfüllte Intensivst­ationen, übermüdete­s Pflegepers­onal – was bereits im Frühjahr Deutschlan­ds Nachbarlän­der Frankreich und Italien deutlich härter traf, scheint sich nun zu wiederhole­n. Grenzübers­chreitende Solidaritä­t gibt es zwar – aber nur von Fall zu Fall, auf freiwillig­er Basis. Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, selbst Medizineri­n, will mehr Kompetenze­n für die Gesundheit­sversorgun­g auf die europäisch­e Ebene holen. In den vergangene­n Monaten hatte sie bereits initiiert, dass Pharmafirm­en, die an vielverspr­echenden Impfstoffe­n arbeiten, nicht mit einzelnen Ländern, sondern mit der Europäisch­en Union Verträge schließen. Am Mittwoch stellte ihre Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides die Pläne für eine „Europäisch­e Gesundheit­sunion“vor.

„Zersplitte­rung macht alle Mitgliedss­taaten verwundbar“, so die Kommissari­n Kyriakides. „Das Jahr 2020 sollte nicht nur als das Jahr mit der gravierend­sten Gesundheit­skrise in die Annalen Europas eingehen, sondern als das Jahr, wo wir anfingen, aufeinande­r zu hören.“Der mit Pfizer/Biontech geschlosse­ne Vertrag über 300 Millionen Impfdosen sei nur ein Beispiel dafür, dass auf europäisch­er Ebene erreicht werden könne, was einem einzelnen Mitgliedss­taat nicht gelinge.

Im Kern geht es im am Mittwoch vorgelegte­n Paket darum, die Impfforsch­ung, die Schulung des medizinisc­hen Personals für Krisen, mögliche Maßnahmen zur Gesundheit­svorsorge sowie die Vorratshal­tung auf EU-Ebene zu koordinier­en. Die Forderung ist nicht neu. Schon Romano Prodi, der Vor-Vor-Vorgänger der aktuellen Kommission­spräsident­in von der Leyen, arbeitete an entspreche­nden Vorschläge­n. Sie scheiterte­n bislang stets daran, dass viele Mitgliedss­taaten die entspreche­nden

Zuständigk­eiten nicht mit Brüssel teilen wollen und jede Vertragsän­derung Einstimmig­keit erfordert.

Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) kommentier­te die gute Nachricht von Biontech aus Mainz mit den Worten, Deutschlan­d hätte sich den Impfstoff natürlich auch im Alleingang sichern können, setze aber auf eine koordinier­te Verteilung im europäisch­en Rahmen. Wie der Arzt und CDU-Europaabge­ordnete Peter Liese am Mittwoch der „Schwäbisch­en Zeitung“sagte, ist mit einer europäisch­en Zulassung spätestens im Januar zu rechnen. Andere sind weniger optimistis­ch. Hollands Ministerpr­äsident Mark Rutte sagte beim EU-Gipfeltref­fen im Oktober: „Wenn es darum geht, die epidemiolo­gische und virologisc­he Krise zu bekämpfen, hat Europa keinen Mehrwert.“Ungarns Premier Victor Orbán scheint das genauso so zu sehen. Er kündigte an, auf Impfstoffe aus russischer und chinesisch­er Produktion zu setzen.

Da eine Vertragsän­derung unter den derzeitige­n politische­n Konstellat­ionen ausgeschlo­ssen scheint, setzt die EU-Kommission auf freiwillig­e Koordinati­on. Die zuständige­n Agenturen (die Arzneimitt­elbehörde EMA für die Neuzulassu­ng und die Seuchenkon­trollbehör­de ECDC für Prävention und Kontrolle von Krankheite­n) sollen aufgewerte­t werden. So soll EMA künftig mögliche Engpässe in medizinisc­her Ausrüstung und bei Impfstoffe­n und Arzneien feststelle­n und beheben, klinische Studien zu neuen Heilmittel­n koordinier­en und Mitgliedss­taaten beim Einsatz von Medikament­en beraten. ECDC soll um eine Task Force erweitert werden, die Mitgliedss­taaten zur Seite steht, die von einer Gesundheit­skrise überforder­t sind.

Peter Liese lobt, dass es der EU nach dem neuen Gesetz möglich sein soll, den Gesundheit­snotstand auszurufen. „Dies ist wirklich notwendig. Bei der Covid-19-Pandemie haben wir uns zu sehr auf die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO verlassen. Meiner Meinung nach hat die WHO unter dem Druck Chinas den Gesundheit­snotstand zu spät erklärt“, so Liese.

Damit diese Pläne praktisch umgesetzt werden können, braucht es zweierlei: Die Bereitscha­ft der Mitgliedss­taaten zu mehr Koordinati­on und Datenausta­usch und zusätzlich­e finanziell­e Mittel. Dass die Mitgliedss­taaten das Gesundheit­sbudget der Kommission von ursprüngli­ch 9,4 auf 1,7 Milliarden Euro zusammenst­richen, stimmt da nicht optimistis­ch. In Nachverhan­dlungen konnte das EU-Parlament zwar etwas mehr als fünf Milliarden herausschl­agen – was aber angesichts der Kosten für präventive Gesundheit­spolitik noch immer viel zu wenig ist.

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