Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Aladdin und Ludwig im Hausarrest

Die geschlosse­nen Musicalthe­ater in Stuttgart und Füssen kämpfen ums Überleben

- Von Katja Waizenegge­r

RAVENSBURG - Als im März die Aufführung­en von „Aladdin“und „Tanz der Vampire“in den Stuttgarte­r StageTheat­ern Apollo und Palladium vorsorglic­h auf September verschoben wurden, wähnte sich die Geschäftsf­ührerin des größten Musicalver­anstalters in Deutschlan­d auf der sicheren Seite. Denn Uschi Neuss konnte sich – wie wohl die meisten Menschen – damals nicht vorstellen, dass Corona das gewohnte Leben länger als ein paar Wochen beeinträch­tigen würde. Und doch ist genau das eingetrete­n. Die Lichter in den Stuttgarte­r Theatern sind aus – und werden es wohl noch eine ganze Weile bleiben. Die Musicallan­dschaft des Südwestens liegt brach. Neben den Stage-Theatern in Stuttgart betrifft dies auch das Festspielh­aus Neuschwans­tein in Füssen.

„Ich wage es noch überhaupt nicht, eine Empörungst­onalität in meine Stimme zu legen“, sagte der Unternehme­nssprecher von Stage Entertainm­ent, Stephan Jaekel, vor drei Wochen am Telefon. Neben der Wortgewand­theit des Hamburgers, die so manchen Schwaben in Ehrfurcht erstarren lässt, wurde deutlich: Der Pressespre­cher hatte Verständni­s für die Beschränku­ngen, die der Kulturbere­ich hinnehmen musste. Bis dahin. Beim nächsten Telefonat im November lässt sich dann doch eine gewisse Empörung heraushöre­n. Und das, obwohl die zweite Schließung­swelle der Theater und Konzerthäu­ser für den Konzern keine unmittelba­ren Auswirkung­en hatte. Die acht Spielstätt­en in Stuttgart, Hamburg und Berlin blieben ohnehin den ganzen Sommer geschlosse­n. „Der November-Lockdown ist für uns die Fortsetzun­g eines seit 13. März andauernde­n Berufsverb­ots.“

Ähnlich sieht es auch Ulrike Propach, Pressespre­cherin des Festspielh­auses in Füssen. Dort wurde über den Sommer zwar ein eingeschrä­nkter Spielbetri­eb aufrechter­halten, meist im Freien und mit kleineren Veranstalt­ungen. Die großen Eigenprodu­ktionen wie „Ludwig2“und die Uraufführu­ng des Ralph-Siegel-Musicals „Zeppelin“wurden aber aufs nächste Jahr verschoben.

Auch wenn Größe und Zuschnitt beider Musicalver­anstalter sich unterschei­den – hier mit Stage der internatio­nale Konzern, der zum amerikanis­chen Medienunte­rnehmen Advance Publicatio­ns gehört, dort das inhabergef­ührte Festspielh­aus am Forggensee, dessen Bilanz sich nach mehreren Insolvenze­n unter Manfred Rietzler stabilisie­rt hatte: Beide Betriebe finanziere­n sich ohne staatliche Zuschüsse. „Wir verstehen uns als Unternehme­n mit einer Eigenfinan­zierungsqu­ote von 100 Prozent“, sagt Jaekel. Das heißt im Klartext, dass ausschließ­lich der Ticketverk­auf die Kosten decken muss. Während staatlich subvention­ierte Theater und Konzerthäu­ser im Sommer wieder öffnen konnten, um auch vor wenigen Zuschauern zu spielen, blieben die Musicalbüh­nen deshalb verwaist.

Doch wie viele Zuschauer müssen sich ein Ticket kaufen, damit die Rechnung des Abends aufgeht? Jaekel nennt eine Auslastung von mindestens 60 Prozent bei 1750 Plätzen in jedem der Stuttgarte­r Theater. „Wir hätten mit jedem Abend, den wir vor den von den Behörden erlaubten 500 Zuschauern spielen, Schulden angehäuft.“Eigentlich ist er der Ansicht, dass das 80-seitige Hygienekon­zept und die von Fachleuten als sehr gut eingestuft­e Belüftung mehr Zuschauer rechtferti­gen würden. Bei der Belegung müsse man schließlic­h die Größe des Raumes berücksich­tigen.

Für die Füssener würden die 500 Zuschauer ausreichen, um bei 1355 Plätzen mit einer schwarzen Null herauszuko­mmen, so Propach. Hier ist das Problem ein anderes: „Für unsere großen Produktion­en bräuchten wir vonseiten der bayerische­n Landesregi­erung Lockerunge­n für den Spielbetri­eb. Nur so können wir die Stücke so spielen, wie man sie von früher kennt. Mit Gesang, Tanz, Akrobatik, kurzum: Nähe. Ohne die kein Spiel.“Propach weist zudem auf ein Missverstä­ndnis hin, das bei Politikern verbreitet sei: „Wir dürfen eine Inszenieru­ng nicht beliebig ändern und dabei die Urheberrec­hte verletzen. Da gibt es das Mitsprache­recht des Autors.“Und wenn der einer Liebesszen­e auf Distanz nicht zustimme, dann habe er das letzte Wort.

„Ich habe das Gefühl, dass wir als Musicalver­anstalter unter dem Radar der Politiker bleiben“, so Jaekel. „Aber uns ist auch bewusst, dass keine einfachen Entscheidu­ngen getroffen werden.“Das Argument, dass mit strengeren Maßnahmen in der Gastronomi­e, der Kultur und im Tourismus der komplette Lockdown verhindert werde, kann er nachvollzi­ehen. Aber im Rückschlus­s sollte seiner Meinung nach die restliche Wirtschaft­sförderung denen zugute kommen, die jetzt stillhalte­n müssen. Doch die Anträge beim Land Baden-Württember­g, dem Ministeriu­m für Wissenscha­ft, Forschung und Kunst (MWK), dem Wirtschaft­sministeri­um, der Stadt Stuttgart wurden stets voller Verständni­s für die Situation des Konzerns zur Kenntnis genommen – und dann mit Bedauern abgelehnt. Außer der Kurzarbeit für fast alle der 1700 Stage-Mitarbeite­r gebe es keine finanziell­e Unterstütz­ung.

Roland Böhm, Sprecher beim MWK in Stuttgart, bestätigt das. Stage sei als Konzern „bei den Förderprog­rammen des Kunstminis­teriums in der Regel nicht antragsber­echtigt“. Bei den Förderprog­rammen des Wirtschaft­sministeri­ums wiederum auch nicht, weil die Konzernzen­trale in Hamburg sei. Und die Stadt, der Stage laut Jaekel immerhin fast 800 000 Gäste im Jahr beschert, die oft ein, zwei Tage in Stuttgart ihr Geld ausgeben, sieht sich ebenfalls nicht in der Pflicht.

„Wir haben zwei, drei Mitarbeite­r bei uns, die fast nichts anderes tun, als das Netz nach Förderprog­rammen zu durchforst­en und Gespräche mit den jeweiligen Behörden zu führen. Aber irgend etwas passt immer nicht“, sagt Pressespre­cher Jaekel. Die meisten Förderrege­lungen auf Landeseben­e hätten Schwelleng­rößen, die für den Einzelunte­rnehmer und den Mittelstan­d greifen, aber nicht für einen

Konzern wie Stage. Oft sei auch die internatio­nale Muttergese­llschaft das Hindernis. Auf ein Programm sei man nun gestoßen, nämlich auf Monika Grütters Kultur-Milliarde, die im Frühjahr angekündig­t worden war. Aus diesem Topf der Kulturstaa­tsminister­in Grütters (CDU) könne man Geld für coronabedi­ngte Maßnahmen wie Aufstockun­g von Personal, Desinfekti­onsspender und so weiter beantragen. Ein Tropfen auf den heißen Stein, der nur den tatsächlic­hen Mehraufwan­d decke, mehr nicht.

Haben die beiden Musicalbüh­nen in Stuttgart da überhaupt noch eine Chance? „Seit dem 13. März haben wir keine nennenswer­ten Einnahmen mehr. Und jeder, der einmal einen Betrieb geführt hat, kann sich ausrechnen, dass die Reserven irgendwann aufgebrauc­ht sind“, so Jaekel. Die Hamburger Zentrale werde allerdings auf keinen Fall nur den Standort Stuttgart schließen. „Wenn wir das als Firma überleben, woran ich keinen Zweifel habe, dann bleibt Stuttgart unser wichtigste­s Standbein neben Hamburg. Ohne Stuttgart kein Stage.“

Wenn die Theater irgendwann wieder öffnen dürften, hofft der Konzern auf eine Absicherun­g der Investitio­nen. Denn auch um eine oft gespielte Produktion wie „Tanz der Vampire“wieder auf die Bühne zu bringen, braucht es vier Wochen und ein paar Millionen. „Nicht die möchten wir haben, sondern eine Ausfallabs­icherung für den Fall, dass bei einer neuerliche­n Schließung wegen steigender Corona-Zahlen wir nicht auf diesen Kosten sitzen bleiben. Das könnten wir uns einfach nicht mehr leisten.“

In Füssen gibt man die Hoffnung auf „ein kleines Programm über Weihnachte­n mit 200 Zuschauern“noch nicht auf. Und baut auf die Treue der Musicalfan­s. Optimist Stephan Jaekel hofft zudem auf eine behutsamer­e Wortwahl bei Behörden und Politiker. Es sei kontraprod­uktiv, auch für die Zeit nach Corona, wenn man den Besuch eines Theaters per se als etwas Gefährlich­es erscheinen lasse. Und zitiert eine Darsteller­in: Auch wenn Musicals vielleicht nicht systemrele­vant seien, so doch zumindest Seelen-relevant.

Als kleinen Lichtblick für Musicalfan­s verkündet Stage ganz aktuell, dass der Broadway-Hit „Hamilton“ab November 2021 in Hamburg gespielt wird. (www.musicals.de) Flexible Tickets für „Ludwig2“und „Zeppelin“in Füssen unter www.das-festspielh­aus.de.

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FOTO: DEEN VAN MEER/STAGE Die Disney-Produktion „Aladdin“im Stuttgarte­r Stage Theater soll nach der Wiedereröf­fnung um die Zeit des Stillstand­s verlängert werden.
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FOTO: PETER SAMER/FESTSPIELH­AUS Anna Hofbauer und Jan Ammann als Sissi und Ludwig II. in „Ludwig ein Dauerbrenn­er im Festspielh­aus Füssen. eigentlich

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