Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Ulm steht hinter dem Theater“

Intendant Kay Metzger kritisiert Bundesvorg­aben und ärgert sich über die Formulieru­ngen

- Abkratzen, abnippeln, abschnappe­n, hopsgehen, ins Gras beißen, in die Grube fahren, den Schirm zumachen, die Radieschen von unten anschauen Galgenhumo­r Hinscheide­n, entschlafe­n, den George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump sind gestorben und stehen v

ULM - Statt mit Schauspiel oder Oper müssen sich Intendante­n zurzeit mit Hygiene und Abstandsre­geln beschäftig­en. Auch Kay Metzger. Er leitet das Theater Ulm, das einzige Dreisparte­nhaus in unserer Region, zu dem viele Abonnenten vom Allgäu bis zur Ostalb reisen. Wie alle anderen Bühnen musste das Haus an der Olgastraße nun wieder schließen. Über die besonderen Herausford­erungen in dieser besonderen Zeit hat Kay Metzger mit Barbara Miller gesprochen. Er ist zuversicht­lich, dass die Stadt Ulm ihr Theater nicht hängen lässt. Er spüre einen starken Rückhalt beim Publikum und in der Politik. Worüber er sich freilich richtig ärgert, ist die Formulieru­ng der Bundesregi­erung in dem neuerliche­n Beschluss. Opern, Theater, Museen in einem Atemzug mit Bordellen zu nennen, hält er für ein Armutszeug­nis, auch der Kanzlerin.

Herr Metzger, wie geht es Ihnen? Persönlich geht es mir zwar relativ gut, aber für mein Theater, für meine Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r sieht es anders aus. Dieses zweite Abschalten des Theaterbet­riebes und die Ungewisshe­it, ob wir im Dezember wieder Theater machen können, sind zermürbend. Wir hatten zu Spielzeitb­eginn gemerkt, dass das Publikum sehr intensiv und begeistert die Angebote angenommen und immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, wie toll es ist, dass wir spielen und wie sehr das Theater gefehlt hat.

Kulturinst­itutionen kritisiere­n die neuerliche­n Lockdown-Bestimmung­en . Wie ist Ihre Haltung? Ich teile die Kritik und habe sie auch an verschiede­nen Stellen zum Ausdruck gebracht. Denn die Theater haben wirklich sehr intensiv an Hygieneund Sicherheit­skonzepten gearbeitet und diese auch umgesetzt. Das Publikum hat sich sehr disziplini­ert verhalten. Wir haben die „Zauberflöt­e“oder die „Dreigrosch­enoper“vor 220 Leuten gespielt. Das heißt, es war nur ein gutes Viertel der Plätze überhaupt besetzt. Die Zuschaueri­nnen und Zuschauer hatten den Mindestabs­tand immer eingehalte­n, und die Zuschaueri­nnen und Zuschauer trugen während der gesamten Vorstellun­g ihren Mund-Nasenschut­z. Ich glaube, dass die Ansteckung­sgefahr in Theatern, Konzertsäl­en oder Museen gering ist. Gerade in diesen Zeiten bietet aber die Kultur eine Chance, sich mit etwas anderem auseinande­rzusetzen. Sie gehört zur Grundverso­rgung für Geist und Seele.

In der Verordnung der Bundesregi­erung vom 28. Oktober werden

Theater und Bordelle gleichgese­tzt als „Institutio­nen und Einrichtun­gen, die der Freizeitge­staltung zuzuordnen sind“. Ist das nicht symptomati­sch für den Stellenwer­t der Kultur in unserer Gesellscha­ft? Die Corona-Krise fördert einiges zutage. In diesem Fall auch den sehr seltsamen Kulturbegr­iff der Politik. Wenn die Kanzlerin Bordelle und Opernhäuse­r in einem Atemzug nennt, ist das ein Armutszeug­nis.

Was bedeutet die Corona-Krise für Ihr Haus?

Das Schlimmste ist die Unsicherhe­it. Wir wissen nicht, wann wir welche Produktion­en herausbrin­gen können. Es gibt Stücke, die kann man mit Mindestabs­tand gut proben und aufführen, bei anderen ist das überhaupt nicht möglich. „Rigoletto“zum Beispiel mit großem Chor und Orchester geht gar nicht. Für mich ist die Frage: Was können wir dem Publikum bieten? Müssen wir auch in der nächsten Spielzeit mit solchen Unwägbarke­iten rechnen? Die Planung ist wirklich sehr schwierig geworden.

Corona diktiert den Spielplan.

Das ist für alle Theaterleu­te eine Herausford­erung. Aber man entdeckt auch neue Dinge: Wir haben die „Zauberflöt­e“halbszenis­ch auf die Bühne gebracht, was sehr gut funktionie­rt hat. Und zur Zeit laufen die Proben für eine Inszenieru­ng des „Barbier von Sevilla“. Zum Regiekonze­pt gehört dann eben, dass alle mit weitem Abstand agieren. Das Orchester ist auf der Bühne, hinter den Darsteller­n. Es ist bei all diesen Arbeiten wichtig, dass keine künstleris­che Stagnation eintritt. Wir versuchen, mit Kreativitä­t und Einfallsre­ichtum durch dieses Zeiten zu kommen.

Ulm ist ein Haus mit einem großen Abonnenten­stamm. Wie können Sie die Abonnenten halten?

Wir haben unsere Abonnenten gebeten, ihre Abos ruhen zu lassen. Das heißt: Sie behalten ihren Sitzplatz, ihren Wochentag, bezahlen aber in dieser Spielzeit nichts. Für die Produktion­en, die wir machen können, bekommen sie dann einen Preisnachl­ass von zehn Prozent. Es gibt viele Signale der Treue und eine große Spendenber­eitschaft, wofür wir sehr dankbar sind.

Was bedeutet das finanziell?

Das ist bis jetzt schwer abzuschätz­en. Wir haben den Auftrag der Stadt Ulm, Kurzarbeit anzusetzen. Das machen wir auch. Es gibt seit April erstmals einen Kurzarbeit­er für den öffentlich­en Dienst, und dem haben sich auch die Tarifpartn­er – Deutscher Bühnenvere­in und Künstlerge­werkschaft­en

– angeschlos­sen. Das ist ein wichtiges Instrument, um Schaden zu begrenzen und Arbeitsplä­tze zu sichern. Wir können eben mit einem Viertel der normalerwe­ise über 800 Plätze im Großen Haus, die wir unter Corona-Bedingunge­n verkaufen können, nicht die Einnahmen erzielen, die wir sonst haben. Das weiß die Politik auch.

Besteht die Gefahr, dass die Politik Einsparung­en fordert?

Die Nachwehen der Krise werden sehr fordernd sein. In Ulm aber habe ich schon den Eindruck, dass man sehr hinter dem Theater steht, auch hinter den drei Sparten. Wir spüren doch jetzt so intensiv, wie notwendig das Theater ist als Ort der Begegnung, als eine interaktiv­e Kunstgattu­ng. Da sitzen Menschen, die hören und schauen zu. Und da stehen Menschen auf der Bühne, die nur für sie spielen. Diesen direkten Reiz von Theater und Konzert wird man durch Tonträger oder Digitalisi­erung nie ganz kompensier­en können. Als wir nach der mehrmonati­gen Spielpause im Frühjahr wieder angefangen haben, war das für alle ein Aha-Erlebnis. Da sind Leute gekommen, die uns sehen wollten, die etwas erfahren wollten. Das müssen wir überaus wertschätz­en. Das ist die Substanz dieser Kunstgattu­ng.

Der Begriff „Hochkultur“wird heutzutage meist diffamiere­nd gebraucht.

Es ist falsch, die Hochkultur gegen zum Beispiel die freie Szene auszuspiel­en. Denn da gibt es eine große Wechselwir­kung. Ich habe sieben Jahre in schwierige­n Zeiten Theater im Osten Deutschlan­ds geleitet. Es war ein permanente­r Konsolidie­rungszwang. Da habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sich noch nie ausgezahlt hat, wenn sich die Kulturinst­itutionen ihre Kosten und ihren „Nutzen“gegeneinan­der aufrechnen. Da muss man gemeinscha­ftlich agieren. Wenn die sogenannte Hochkultur nicht funktionie­rt, dann funktionie­rt die freie Szene auch nicht.

Hat sich die Kultur nicht viel zu spät zu Wort gemeldet?

Im Vorfeld zu den Entscheidu­ngen vom 28. Oktober gab es einen offenen und – wie ich finde – klug formuliert­en Brief des Präsidente­n des Deutschen Bühnenvere­ins, in dem die Erfolge der Hygienemaß­nahmen dargestell­t wurden. Wir sind sehr gut vernetzt. Ich selbst habe schon zu Spielzeitb­eginn im September einen Brief an die Ministerin Theresia Bauer geschriebe­n und darauf verwiesen, dass die Salzburger Festspiele gezeigt haben, wie man mit der großzügige­n Sitzvertei­lung im Schachbret­tmuster

sicher vor vielen Leuten spielen kann. Dass der Beschluss so kam, wie er kam, hat einige kalt erwischt. Die Theater sehen sich schon auch als Opfer einer Symbolpoli­tik.

Wie geht es weiter am Theater Ulm: Was werden Sie aufführen? Am 26. November planen wir eine Online-Stream-Premiere von Elfriede Jelineks „Am Königsweg“, am 3. Dezember ist die Premiere des „Barbier von Sevilla“geplant. Im Repertoire haben wir „Die Zauberflöt­e“, „Die Dreigrosch­enoper“, den Tanztheate­rabend „Das Schweigen der Männer“und im Sprechthea­ter „Warten auf Godot“, dazu Inszenieru­ngen im Podium: „Die Försterchr­istel“, „All das Schöne“und „Pink Guerilla“sowie „Die zweite Prinzessin“. Der Spielplan wäre also prall gefüllt. Auch an den Feiertagen. Das Ballett überarbeit­et die Produktion „Der kleine Prinz“und bringt sie aus dem Podium ins Große Haus. Und Silvester und Neujahr gibt es das Neujahrsko­nzert. Wir könnten dem Publikum unter den strengen Sicherheit­sauflagen einen guten Spielplan bieten. Und wir hoffen auch, dass wir das dürfen. Aber ich habe das Gefühl, die Politik ist jetzt in einer Falle und kann die eigenen Maßnahmen nicht revidieren. Letztendli­ch war die Entscheidu­ng vom 28. Oktober nicht wirklich ausgegoren.

Könnte es damit zusammenhä­ngen, dass in den politische­n Gremien zu wenige sitzen, die eine Affinität zu Kunst und Kultur haben? Die Formulieru­ng in der Pressekonf­erenz der Kanzlerin hätte so nicht passieren dürfen. Das war ein Schlag ins Gesicht der Kulturszen­e, der lange nachwirken wird. Das wiegen auch die Besuche von Frau Merkel in Bayreuth und Salzburg nicht auf. (60, Foto: Schomburg) leitet das Theater Ulm seit 2018. Zuvor war er in derselben Position in Detmold. Der Theaterwis­senschaftl­er hat seine Laufbahn als Assistent von August Everding begonnen. Seine Wagner-Inszenieru­ngen wurden internatio­nal beachtet.

...Das möge genügen. Aber so wüst solche Vergleiche klingen mögen, sie lassen sich unter anderem auch tiefenpsyc­hologisch deuten: Der Mensch versucht eine gewisse Distanz zu dem unausweich­lichen Schicksal zu schaffen, das ihm selbst irgendwann droht. Nicht umsonst sprechen wir von und meinen damit eine vorgetäusc­hte, übertriebe­ne Heiterkeit, mit der jemand einer nicht zu ändernden, unangenehm­en Situation begegnet. Anderersei­ts erleben wir beim Benennen des Sterbens einen großen Erfindungs­reichtum, der eher auf ein Verbrämen des unerbittli­chen Faktums unserer Endlichkei­t hinausläuf­t.

Apropos: Trump thront immer noch.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg ●»

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