Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Dunkelziffer bei sexualisierter Gewalt vermutet
Bericht des Jugendamts zeigt, dass die Fälle der Gefährdung des Kindeswohls im Landkreis Lindau zunehmen
LINDAU - Das Jugendamt des Landkreises Lindau hat immer häufiger mit Kindern zu tun, die vernachlässigt werden. Sexueller Missbrauch spielt noch fast keine Rolle, nimmt aber laut Einschätzungen des Jugendamts zu. Die Fachleute vermuten aber eine Dunkelziffer.
Jugendamtsleiter Jürgen Kopfsguter berichtet von steigenden Zahlen bei der Kindeswohlgefährdung. Waren es vor fünf Jahren noch 25 Fälle, sind es vier Jahre später schon 77. In diesem Jahr droht ein weiterer Anstieg, denn bis Ende September gab es 59 Fälle.
Wichtig hier: Die Zahlen zeigen nur, wenn es einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung gab, denen das Jugendamt nachgegangen ist, nicht, wenn sich dieser bestätigt hat.
Genau kann das Landratsamt nicht sagen, in wie vielen Fällen es sich dabei um sexualisierte Gewalt handelt, da die Zahlen nicht gesondert festgehalten werden. Die Fachleute haben das Gefühl, dass die Zahl der Fälle aber ansteigt. Zurückzuführen ist dieses Gefühl auf Meldungen von Polizei und Staatsanwaltschaft, die beim Jugendamt eingehen.
Sexualisierte Gewalt nehme in digitaler Form zu und erreiche auch immer jüngere Altersgruppen, so steht es im Bericht, den Fachbereichsleiter Jürgen Kopfsguter und Geschäftsbereichsleiter Tobias Walch dem Jugendhilfeausschuss vorlegten. „Der Zugang zu digitalen Medien mit Gewaltpotenzial ist einfacher geworden, und das birgt Gefahrenquellen“, warnt Kopfsguter.
Bei der Fachstelle für frühe Hilfen des Jugendamts sind laut dem Bericht in den letzten zehn Jahren nur vier Anfragen zu sexalisierter Gewalt bei Kindern und Jugendlichen eingegangen. Aus Schulen, Kindertageseinrichtungen und der Jugendsozialarbeit sind die Rückmeldungen ähnlich: „Eher selten“kommt es zu Fällen aus dem Bereich des Missbrauchs von Kindern. Da die Familien, bei denen es zu Problemen kommen könnte, weitestgehend im Blick sind, könne man frühzeitig reagieren. Ein Vorteil sei hier auch, dass der Landkreis ländlich ist. „Insgesamt spielt das Thema sexueller Missbrauch bisher noch eine untergeordnete Rolle bei uns“, sagt Jürgen Kopfsguter. Aber genau deshalb müsse man fachlich gut aufgestellt sein. Mit Beratungsstellen, wie dem Frauennotruf, der Beratungsstelle für Erziehungs-, Jugend-, Familienberatung (KJF) oder der Erziehungsberatung und der Ehe-, Familienund Lebensberatung, sei man sowohl bei dem Thema Kindeswohlgefährdung als auch sexualisierter Gewalt im Landkreis gut aufgestellt. Das Ergebnis aber auch: Die Fachberatungsstelle für Betroffene von sexueller Gewalt beim Frauennotruf, die Fortbildungs-, Präventions- und Beratungsangebote anbietet, stellt fest, dass zum Beispiel Vereine diese noch zu wenig annehmen. „Es wäre an der Zeit, dass Vereine das auch tun“, sagt Kopfsguter.
Ausgebaut werden müsse auch die Öffentlichkeitsarbeit. Denn: Einen offenen und tabulosen Umgang könne es nur geben, wenn sämtliche Beratungsmöglichkeiten bekannt sind. „Wir müssen uns jetzt mit den Kooperationspartnern zusammensetzen und überlegen, was wir besser machen können“, so Kopfsguter. Denn nur so könne man eine vermutliche Dunkelziffer aufweichen.
Dass es eine Dunkelziffer gibt, davon ist Ausschussmitglied Katrin Dorfmüller (SPD) überzeugt. „Wie hoch die ist, darüber erlaube ich mir kein Urteil“, sagt Dorfmüller, die auch beratende Anwältin ist.
Ein weiteres Problem sieht sie darin, dass es im Falle einer Anzeige oft viel zu lange dauert, bis es dann zu einer Verhandlung und möglichen
Verurteilung kommt. Vor fünf Jahren hatten Richter, Lindauer Beratungsstellen und Anwälte das Projekt „Lindauer Weg“gegründet. Das Ziel: Wege bis zum Gericht zu verkürzen, um die Situation so für die Kinder erträglicher zu machen. „Wir sind dabei, das Ganze noch weiter zu optimieren“, sagt Dorfmüller. Die Wege zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und anderen Akteuren müssten so schnell und kurz wie möglich sein.
Aber warum steigen die Zahlen? Beispielsweise sei die Gesellschaft immer mehr sensibilisiert für das Thema und so werden Fälle häufiger bei Jugendhilfe und Polizei angezeigt, so der Bericht. Ein weiterer Grund für Vernachlässigung: Für Eltern sei es immer schwerer, ihrer Erziehungsverantwortung gerecht zu werden. Etwa weil Kinder selbstbestimmter erzogen werden. Das könne allerdings dazu führen, dass Kinder weniger lernen, sich anzupassen, einzuordnen und Grenzen zu spüren. „Aber es ist auch wichtig, dass man Zeit für sein Kind hat und ihm Freiräume gibt“, sagt Kopfsguter. Zum Beispiel bei einer Trennung könne das zu kurz kommen.