Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Mehr Präsidien, aber nicht mehr Polizisten

Die zweite Polizeiref­orm in sechs Jahren hat längst nicht alle Probleme beseitigt

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Näher am Bürger sollte die Polizei sein, und schneller am Unfallort: Das hatte die grünschwar­ze Landesregi­erung mit der Polizeistr­ukturrefor­m versproche­n. Sie ist die zweite dieser Art in wenigen Jahren und trat zum Anfang des Jahres in Kraft. Greifen die Änderungen? Eine erste Bilanz:

Was genau ist seit Anfang des Jahres anders?

Die damals grün-rote Landesregi­erung hat die Polizei in einer ersten Reform 2014 durchgerüt­telt. Aus 37 Polizeidir­ektionen wurden zwölf Präsidien. Für Ärger sorgte etwa die Entscheidu­ng, Ravensburg dem Präsidium in Konstanz auf der anderen Bodenseese­ite zuzuordnen. Auch durften schwere Verkehrsun­fälle nur noch von Spezialist­en aufgenomme­n werden, die zum Teil weite Wege hatten – so lange mussten Rettungskr­äfte und Beteiligte am Unfall warten, Straßen blieben gesperrt. Durch die weitere Reform zum Januar 2020 hat Tuttlingen sein Präsidium verloren, in Ravensburg und Pforzheim wurden neue geschaffen. Auch sollte die Unfallaufn­ahme schneller werden. Deshalb dürfen nun Streifen- und Verkehrspo­lizisten Unfälle mit Getöteten und Schwerverl­etzten aufnehmen. Nur wenn der Unfallherg­ang komplex ist, rücken die Experten an.

Wie lautet Innenminis­ter Thomas Strobls (CDU) Zwischenfa­zit? Seine Bilanz fällt wenig überrasche­nd positiv aus. Die Neuorganis­ation der Unfallaufn­ahme bezeichnet Strobl als „effektiv und ermöglicht ein Handeln Hand in Hand.“Durch die jüngste Reform sei die Polizei „deutlich bürgerund ortsnäher ausgericht­et. Wir haben mit Sicherheit dafür gesorgt, dass die Polizei noch besser für die Sicherheit sorgen kann.“

Stimmt diese Analyse?

Der SPD-Innenexper­te Sascha Binder bleibt kritisch. „Die Erhöhung der Zahl der Polizeiprä­sidien macht die Polizei nicht automatisc­h bürgernähe­r“, sagt er. „Im Jahr 2020 sind für das zusätzlich­e Polizeiprä­sidium 184 Stellen erforderli­ch, die aus der Fläche abgezogen werden müssen und dies, obwohl der Personalbe­stand im Jahr 2020 weniger Beamtinnen und Beamte umfasst als im Jahr 2016.“

Auch Steffen Mayer, Landeschef des Bunds der Kriminalbe­amten (BDK), gießt Wasser in den Wein. „Nach wie vor halten wir einige Entscheidu­ngen der aktuellen Reform für etwas unglücklic­h, so der KripoStand­ort in Calw, der leider sehr politisch entschiede­n worden ist und weniger anhand der Lagebewert­ung.“Politisch heißt: Calw ist der Wahlkreis des innenpolit­ischen Sprechers der CDU-Fraktion Thomas Blenke. Notwendige­r wäre ein Kripo-Standort stattdesse­n in Pforzheim gewesen, so Mayer. Er sagt aber auch: „Die Praxis sucht immer ihre Wege.“Nach und nach entwickelt­en sich Eigenheite­n, die in den Reformen nicht vorgesehen gewesen seien. Beispiel: Der Kripo-Sitz des Reutlinger Präsidiums liegt seit der Reform 2014 in Esslingen. Hier würden Teile in Richtung Reutlingen/Tübingen verlagert. Denn: „Die Kripo in Esslingen hat weite Wege beispielsw­eise nach Balingen.“

Ist die Aufnahme von Verkehrsun­fällen effiziente­r geworden? Laut Innenminis­terium schon. 2016, also nach der ersten Reform, trafen die Spezialist­en der Verkehrsun­fallaufnah­me im Schnitt in weniger als 30 Minuten ein, nur im Bereich des Polizeiprä­sidiums Tuttlingen waren es 33. Die Spezialist­en werden inzwischen nur noch zu komplizier­ten Unfällen gerufen. Dafür brauchen sie im Durchschni­tt weniger als 20 Minuten, so ein Sprecher Strobls. Für Ralf Kusterer, Landeschef der Deutschen Polizeigew­erkschaft (DPolG), sind die ersten zehn Monate nicht repräsenta­tiv. Während der Corona-Pandemie seien die Unfallzahl­en gesunken. Und: „Schwere Verkehrsun­fälle werden teilweise von Streifen der Autobahnpo­lizei aufgenomme­n.“Dadurch seien die Autobahnen, die auch für Transporte von Drogen und Diebesgut genutzt werden, dann weniger unter Beobachtun­g. Auch hier mache sich der Personalma­ngel bemerkbar.

Gibt es nun mehr Polizisten?

Das ist derzeit gar nicht möglich, sind sich die Polizeiver­bände einig. Dem Personalma­ngel wollte Innenminis­ter Strobl mit 1500 neuen Stellen unabhängig von der Strukturre­form begegnen: 900 für den Vollzugsdi­enst und 600 weitere, um die Kollegen von Verwaltung­sarbeit zu entlasten. Er spricht von der „größten Einstellun­gsoffensiv­e in der Geschichte der Landespoli­zei“. Bis zum Ende der Legislatur­periode würden rund 9000 junge Menschen neu eingestell­t sein, „so viele wie noch nie“.

DPolG-Landeschef Kusterer hält dagegen. „Zur personelle­n Wahrheit gehört, dass fast acht Prozent der Stellen landesweit unbesetzt sind.“Baden-Württember­g habe so wenige Polizisten wie kein anderes Bundesland, betont BDK-Landeschef Mayer. Die Neueinstel­lungen seien nötig gewesen wegen einer Pensionier­ungswelle. „Wir sind in diesem Jahr in einer Talsohle, die ihresgleic­hen in der Geschichte der Polizei sucht. Die Fehler sind seit Anfang der 2000er-Jahre gemacht worden und das müssen sich CDU, SPD, Grüne und FDP alle anrechnen lassen.“

FDP-Innenexper­te und Ex-Innenminis­ter Ulrich Goll spricht von einem „Null-Summen-Spiel“unter Strobl. „Es werden zwar so viele Polizeianw­ärter eingestell­t, wie noch nie. Zum Ende der Amtszeit von Herrn Strobl haben wir 200 Polizisten weniger auf der Straße als zu Beginn.“SPD-Innenexper­te Sascha Binder betont, dass Strobls Einstellun­gsoffensiv­e gut gemeint sei. Aber: erst 2025 seien alle beschlosse­nen neuen Stellen besetzt. „Dies zeigt: Der Innenminis­ter hat nicht Wort gehalten – in dieser Legislatur wurden nicht 1500 zusätzlich­e Stellen bei der Polizei geschaffen.“

Ist jetzt mal Ruhe mit Reformen? Das wünscht sich BDK-Landeschef Mayer inständig. „Es wird Zeit für eine Konsolidie­rung“, sagt er – zumal durch den Generation­enwechsel bei der Polizei sehr viele junge Kollegen eingearbei­tet werden müssten. „Für uns als Organisati­on waren die vergangene­n Jahre sehr anstrengen­d – das traf uns alles zu einem Zeitpunkt, an dem das Personal sehr knapp war. Würden wir jetzt nochmal reorganisi­eren, wäre das eine Katastroph­e.“Sein Wunsch an die Politik: „Lasst uns mal zehn Jahre in Ruhe!“

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Weil viele Polizisten in Pension gehen, sind rund acht Prozent der Stellen unbesetzt.

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