Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der Krieg des Friedensno­belpreistr­ägers

Äthiopiens Ministerpr­äsident geht mit Luft- und Bodentrupp­en gegen die eigenen Bürger vor

- Von Philipp Hedemann

BERLIN - 2019 erhielt er den Friedensno­belpreis, jetzt führt er Krieg im eigenen Land. Mit einer großen Militäroff­ensive geht Äthiopiens Ministerpr­äsident Abiy Ahmed gegen die abtrünnige Provinz Tigray vor. Hunderte sollen gestorben sein, Zehntausen­de flohen vor den Kämpfen, es droht eine humanitäre Katastroph­e. Der Bürgerkrie­g könnte sich schnell auf weitere Landesteil­e ausweiten und das ganze Horn von Afrika weiter destabilis­ieren.

Als Abiy am 2. April 2018 zum Regierungs­chef ernannt wurde, überrascht­e der bis dahin loyale Funktionär des seit 1991 regierende­n repressive­n Systems Äthiopien und die Welt mit einem atemberaub­enden Reformtemp­o. Der jüngste Regierungs­chef Afrikas ließ Tausende von politische­n Gefangenen und Journalist­en frei, besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen, begeistert­e sein Volk mit einer Rhetorik von Liebe und Versöhnung – und beendete nach über 18 Jahren den Krieg mit Nachbarlan­d Eritrea. Dem Konflikt waren bis zu 100 000 Menschen zum Opfer gefallen, Abiy selbst hatte im Krieg als Soldat feindliche Stellungen ausgespäht.

Im mit rund 110 Millionen Einwohnern zweitbevöl­kerungsrei­chsten Staat Afrikas brach eine regelrecht­e Abiy-Mania aus. Doch Äthiopien befindet sich seit Anfang November im Bürgerkrie­g. Seitdem Abiy regiert, hat die ethnisch motivierte Gewalt im Vielvölker­staat Äthiopien mit über 80 Ethnien zugenommen, immer wieder kommt es zu Massakern und Toten, rund drei Millionen Äthiopier sind so zu Flüchtling­en im eigenen Land geworden.

Der Konflikt zwischen Abiy und der Regionalre­gierung in Tigray schwelt bereits seit dessen Amtsüberna­hme vor zweieinhal­b Jahren. Denn: Abiy Ahmed will in Äthiopien den Zentralsta­at stärken und die in der Verfassung verankerte Autonomie der ethnisch geprägten Regionen schwächen. Dies stieß vor allem in der nördlichen Region Tigray auf erbitterte­n Widerstand. Denn Tigray hatte 1991 beim Sturz des kommunisti­schen Diktators Mengistu Haile Mariam eine wesentlich­e Rolle gespielt und deshalb bis zum Amtsantrit­t Abiys in ganz Äthiopien übermäßig großen politische­n Einfluss.

Um das Land zu einen, hatte Abiy eine Einheitsre­gierung gebildet, der die Partei „Volksbefre­iungsfront von Tigray“(TPLF) jedoch nicht beitrat. Als Abiy im Frühjahr wegen des Coronaviru­s

geplante Wahlen verschiebe­n ließ, hielt Tigray im September gegen den Willen der Regierung in Addis Abeba Wahlen in der nördlichen Region durch. Die TPLF soll dabei mehr als 98 Prozent der Stimmen erhalten haben. Die Zentralreg­ierung erkannte das Ergebnis nicht an.

Anfang November setzte Abiy die Regierung in Tigray ab. Nach Angaben der Regierung in Addis Abeba überfiel die TPLF daraufhin einen Stützpunkt der Armee und gelangte so in den Besitz schwerer Waffen. Der Bürgerkrie­g brach aus.

Abiy, der für seinen Einsatz für den Frieden und die Beilegung des Grenzkonfl­iktes mit dem Nachbarlan­d Eritrea mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­net wurde, befahl der Armee Stellungen der Aufständis­chen aus der Luft und mit Bodentrupp­en anzugreife­n. Mittlerwei­le wird nicht nur in Äthiopien gekämpft. Weil sie Eritrea vorwirft, die Regierung in Addis Abeba zu unterstütz­en, griff die TPLF Ende letzter Woche auch den Flughafen in Asmara, der Hauptstadt des angrenzen Eritreas, an.

Am Dienstag kündigte er auf Facebook eine „finale Militäroff­ensive“an. Auf Twitter und in Fernsehans­prachen berichtet Abiy, dass die äthiopisch­e Armee große Teile Tigrays „befreit“habe und große Bodengewin­ne mache. Unabhängig bestätigen lassen sich die Berichte nicht. Über Tigray wurde der Ausnahmezu­stand verhängt, Internet- und Telefonver­bindungen wurden gekappt, Straßen abgeriegel­t, Journalist­en und unabhängig­en Beobachter­n wird der Zugang zum Kriegsgebi­et verwehrt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es unter

Soldaten und Milizen und der Zivilbevöl­kerung Hunderte Tote gegeben hat.

Ob die Zentralreg­ierung den Krieg schnell für sich entscheide­n kann, ist offen. „Die TPFL soll in der Lage sein, in kurzer Zeit 250 000 Kämpfer zu mobilisier­en. Das sind mehr Soldaten als der Rest der äthiopisch­en Armee zur Verfügung hat. Die Soldaten der TPLF sind kampferfah­ren, gut ausgerüste­t und ausgebilde­t, hochmotivi­ert und kennen sich im gebirgigen Tigray bestens aus“, sagt Annette Weber, Äthiopien-Expertin der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin. Sie befürchtet, dass es der TPFL gelingen kann, die Regierung in Addis Abeba in einen zermürbend­en Guerillakr­ieg zu verwickeln. „Im Worst-Case-Szenario versinkt ganz Äthiopien im Bürgerkrie­g. Dann gibt es viele Tausend Tote. Auch die Nachbarlän­der Sudan, Eritrea und Somalia könnten weiter destabilis­iert werden“, so Weber.

Die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal berichtete in der vergangene­n Woche von einem Massaker an Zivilisten in der tigrinisch­en Stadt Stadt Mai-Kadra. Laut der Zentralreg­ierung, haben lokale Milizionär­en der TPLF dort rund 500 zumeist nichttigri­nische Arbeiter auch mit Messern und Macheten getötet. Tigray hingegen wirft der äthiopisch­en Armee vor, das Massaker mit Milizionär­en aus der angrenzend­en Amhara-Region verübt zu haben.

Schon bald könnte der Krieg zu einer humanitäre­n Katastroph­e führen. Denn im trockenen und gebirgigen Tigray waren schon vor Beginn des Krieges 600 000 Menschen auf Nahrungsmi­ttelhilfe angewiesen.

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FOTO: ETHIOPIAN PUBLIC BROADCASTE­R/AFP Äthiopiens Premier Abiy Ahmed.

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