Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Am Nordpol selbst war das Eis völlig aufgeschmolzen“
Markus Rex war Leiter der „Polarstern“-Expedition – Er konnte in der Arktis einschneidende Folgen der Klimaänderung sehen
Die Expedition „MOSAiC“markiert eines der letzten großen Abenteuer unserer Zeit und gleichzeitig einen Meilenstein der Klimaforschung. 2019 ließ man den Eisbrecher „Polarstern“mit einem Team von Wissenschaftlern aus 18 Nationen an Bord auf arktischen Eisschollen einfrieren, um in der lebensfeindlichen Umgebung erstmals wissenschaftlich verwertbare Daten zu sammeln. Angeführt wurde die Expedition von Prof. Dr. Markus Rex. In seinem Buch „Eingefroren am Nordpol“zeichnet der Physiker, Geophysiker und Meteorologe ein faszinierendes Bild vom einzigartigen Unterfangen. Mit ihm sprach André Wesche.
Prof. Rex, 389 Tage Expedition, 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, endlose Polarnacht - gibt es auch Expeditionsbabys?
(lacht) Ich glaube, diese Frage könnte ich Ihnen erst in ein paar Monaten beantworten. Aber auch dann würde ich die Privatsphäre unserer Expeditionsteilnehmer in den Vordergrund stellen.
Wie lange hat die Vorbereitung der Expedition gedauert und zu welchem Zeitpunkt wurden Sie zum Leiter?
Die ersten Ideen zur Expedition liegen etwa zehn Jahre zurück und sind von Klaus Dethloff in die Welt gesetzt worden. Die Leitung des Gesamtvorhabens habe ich 2015 übernommen, aber natürlich habe ich da schon lange mit im Team gearbeitet.
Sind Sie schon immer eine abenteuerliche Natur oder mussten Sie sich auch ein Stück weit überwinden?
Das Projekt kam mir sehr entgegen. Ich brauche es für mich nicht so sehr, immer feste Pläne zu haben und genau zu wissen, wie die nächsten Tage und Monate aussehen werden. Bei dieser Expedition haben wir uns wirklich vollständig in die Hände der Natur begeben. Die Eisdrift hat uns dorthin getrieben, wo das Eis eben hingetrieben ist. Menschen kommen mit dieser großen Unsicherheit unterschiedlich gut klar. Ich selbst bin in solchen Umgebungen immer relativ glücklich.
Welches Erlebnis vor Ort in der Arktis war besonders atemberaubend und welcher Eindruck war schockierend?
Es gab natürlich ganz viele, faszinierende Momente im arktischen Eis und ganz viele Eindrücke, die mich ein Leben lang begleiten werden. Ich will mal einen herausstellen. Im Winter herrscht dort in der zentralen Arktis für ein halbes Jahr die komplette Schwärze der undurchdringlichen Polarnacht, viel dunkler als alle Nächte in unseren Breiten. Die tief gefrorene Landschaft reicht bis zum Horizont und noch tausend Kilometer darüber hinaus. Wenn man dort auf dem Eis unterwegs ist, nimmt man um sich herum schemenhaft die Gebirge aus zusammengeschobenem Eis und die skurrilen Eisskulpturen wahr, die sich durch Eisdruck und Wind formen. Dazwischen die im Schatten liegenden, schwarzen Ebenen und darüber der faszinierende, plastisch wirkende Sternenhimmel mit viel mehr Sternen, als wir sie zu Hause sehen. Man hat oftmals den Eindruck, einen fremden Himmelskörper zu erkunden und nicht mehr auf dem Planeten Erde unterwegs zu sein. Bedrückend war es, im Sommer zu sehen, wie das Eis verschwindet. Wir sind nördlich von Grönland, wo normalerweise dickes, zum Teil mehrjähriges Eis liegen sollte, und wo man sich normalerweise besser fernhält, durch weite Flächen offenen Wassers fast bis zum Nordpol vorgestoßen. Am Nordpol selbst war das Eis völlig aufgeschmolzen, erodiert, und von Schmelztümpeln durchlöchert. Man konnte sehr eindrücklich sehen, dass das Eis verschwindet. Wenn diese Entwicklung weiter anhält, werden die Arktis und auch der Nordpol in wenigen Jahrzehnten im Sommer eisfrei sein. Es wäre eine andere Welt und das Antlitz unseres
Planeten von außen würde sich verändern. Statt der weißen Eiskappe auf der Nordpolarumgebung haben wir dann dort einen dunklen Ozean liegen, mit den tiefgreifenden Folgen für das Klima der gesamten nördlichen Hemisphäre.
Das Ziel der Expedition war es, eindeutige Fakten für die Klimaerwärmung zu liefern, mit denen die Politik arbeiten kann. Wann können Sie diese Fakten auf den Tisch legen?
Uns geht es darum, die wissenschaftliche Basis für die sehr weitreichenden und tiefgreifenden Entscheidungen zum Klimaschutz zu schaffen, die jetzt dringend erforderlich sind. Und um diese Entscheidungen gut zu gestalten, müssen wir die jeweiligen Konsequenzen der verschiedenen Optionen benennen können. Wir müssen den Menschen sagen können: Wenn wir uns entscheiden, in den nächsten Jahrzehnten noch diese Menge an Treibhausgasen auszustoßen, kommt am Ende des Jahrhunderts dieses Klima bei raus, wenn wir uns aber für diese andere Menge entscheiden, dann wird es dieses andere Klima. Nur wenn wir die zukünftigen Konsequenzen unserer heutigen Entscheidungen verstehen, können wir diese verantwortungsbewusst gestalten. Dann können sich die Menschen überlegen, was sie sich selbst und den zukünftigen Generationen zumuten wollen. Und um diese Konsequenzen abschätzen zu können, brauchen wir robuste und belastbare Klimamodelle, welche auf einem genauen Verständnis der Klimaprozesse beruhen. Und in der Arktis mangelt es uns an diesem, eben weil uns die Beobachtungen der Prozesse dort immer gefehlt haben. Dies zu ändern ist unsere Mission.
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass Menschen wohl nur zeitlich begrenzt Einschnitte in ihrem Alltag hinnehmen. Der persönliche Einfluss auf die globale Erwärmung ist für den Einzelnen noch schwerer greifbar als eine Pandemie. Sind Sie optimistisch, dass Beschlüsse der Politik auch umgesetzt werden können?
Ich bin zutiefst von der Einsichtsfähigkeit und dem Verständnis unserer Gesellschaft überzeugt. Die Zeit war noch nie so günstig wie jetzt, um Mehrheiten für Maßnahmen zum
Klimaschutz zu finden. In den letzten zwei Jahren hat das Thema eine gewaltige Aufmerksamkeit bekommen und heute trifft man auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, wenn es generell um mehr Klimaschutz geht. Schwieriger ist es bei den konkreten Maßnahmen. Aber auch, weil diese immer noch sehr kleinteilig und zum Teil ideologisch diskutiert werden und immer wieder ganz spezifische Emissionen aus kleinen Bereichen zum Teil aus ideologischen Gründen spezifisch in den Fokus genommen werden. Dem Klima ist es aber egal, wo ein bestimmtes zusätzliches CO2-Molekül herkommt. Wir müssen raus aus ideologischen Gräben und eine wirksame, faire, ausgewogene und vor allem einheitliche Bepreisung der Emissionen von Treibhausgasen über alle Sektoren hinweg einführen. Das Aufkommen aus so einer Bepreisung muss der Bevölkerung zudem vollständig rückerstattet werden, denn jeder Eindruck, der Staat möchte sich unter dem Deckmantel der Klimapolitik die Kassen füllen und die Bevölkerung zusätzlich belasten, unterminiert die Mehrheitsfähigkeit enorm. Das Konzept muss sozial ausgewogen sein und Komponenten enthalten, die Verdrängungseffekte von CO2-intensiver Produktion ins Ausland vermeiden, denn damit ist dem Klima nicht gedient. Wenn es der Politik gelingt, die Wirkungen so eines Gesamtkonzeptes gut zu erklären, bin ich überzeugt, sind wir nicht weit von einer gesellschaftlichen Mehrheit und Akzeptanz dafür entfernt.
Wie könnte das aussehen?
Durch einheitlich steigende Kosten für Treibhausgasemissionen wird der Energieverbrauch und die Mobilität teurer. Das belastet zunächst Menschen mit geringem Einkommen mehr als Besserverdienende, da sie die steigenden Kosten weniger gut verkraften können. Wenn das Aufkommen aus einer Bepreisung von CO2-Emissionen der Bevölkerung aber gleichmäßig pro Kopf zurückerstattet wird, profitieren niedrige Einkommensgruppen sogar, weil sie im Schnitt weniger energieintensiv leben als Bezieher höherer Einkommen. So ein Rückerstattungsmechanismus ist zugegebenermaßen schwierig zu gestalten und noch schwieriger in der praktischen Durchführung zu organisieren, aber das sollte uns nicht davon abschrecken, solche Konzepte zu entwickeln.
Überlegt man nach einem solchen Erlebnis noch einmal neu, wie man im persönlichen Alltag Emissionen reduzieren kann?
Wir müssen die Rahmenbedingungen für die Gesellschaft als Ganzes ändern und eine Verminderung der Treibhausgasemissionen attraktiv machen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir das Problem auf globaler Skala durch die Summe vieler individueller Entscheidungen des Einzelnen lösen können. Das sind gute und wertvolle Beiträge zum Klimaschutz, keine Frage. Aber wir haben 7,6 Milliarden Menschen auf dieser Erde. Und nur ein sehr kleiner Anteil davon ist individuellen Verhaltensänderungen aus Überzeugung zugänglich und wird nach intensivem Nachdenken über die Zusammenhänge seinen eigenen Lebensstil so verändern, dass es dem Klima nutzt. Wir brauchen einheitliche Rahmenbedingungen für alle, die die Emissionen von Treibhausgasen weniger attraktiv machen. Durch solche einheitlichen und verbindlichen Regelungen waren wir auch beim Kampf gegen das Ozonloch erfolgreich. Individueller Einsatz ist super, wird das Problem aber nicht allein lösen.
Während der Expedition erreichten die Nachrichten von der Corona-Epidemie die Wissenschaftler auf der „Polarstern“...
Ja. Das war eine sehr schwierige Phase für die Menschen, die da im Eis festsaßen, isoliert waren und keinen Zugang zum Internet hatten. Sie bekamen täglich eine kurze Nachrichtenzusammenfassung von etwa vier Druckseiten, außerdem konnte die „Tagesschau“an Bord übertragen werden – zu mehr reichte die Datenbandbreite nicht. Von den Familien sind nur schriftliche Nachrichten über WhatsApp zu empfangen. Da kann man sich kein umfassendes Bild machen und muss die bruchstückhaften Nachrichten im Kopf ergänzen. Das kann schnell zu dramatischen Bildern führen. Viele haben sich in dieser Phase Sorgen um ihre Familien zu Hause gemacht. Trotzdem war das Team bereit, die Expedition weiterzuführen.
Was haben Sie dort oben am meisten vermisst?
Natürlich habe ich meine Familie und meine Freunde vermisst. Aber man hat nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Dieses Jahr war sehr intensiv mit extrem viel Arbeit und mit faszinierenden Eindrücken.
Wann hat es nach Ihrer Rückkehr zum ersten Mal gekribbelt, weil Sie wieder in die Arktis zurückkehren wollten?
Ich reise seit Anfang der 1990er-Jahre regelmäßig ins Eis, in beide Polarregionen. Wenn ich hier an Land bin, habe ich eigentlich immer eine gewisse Sehnsucht nach dem Eis.
Markus Rex, Eingefroren am Nordpol, C. Bertelsmann Verlag, 320 Seiten, 28,00 Euro