Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der Advent als Zeichen der Hoffnung

Warten lernen – Psychologe­n raten, die Vorweihnac­htszeit für Einkehr und Konzentrat­ion zu nutzen

- Von Paula Konersmann

Am Anfang war die Angst. Was passiert als nächstes? Kann ich meine Familie noch besuchen? Dann kamen praktische Fragen hinzu: Woher bekomme ich Toilettenp­apier, woher Hefewürfel? Welche Bahnfahrt ist wirklich nötig? Was habe ich beim Einkaufen angefasst? Maske dabei? Im Frühjahr, als das Coronaviru­s in Europa um sich zu greifen begann, fühlten sich viele Menschen überforder­t. Neue Routinen stellten sich ein – und die Erkenntnis: Diese Pandemie wird so schnell nicht enden.

Weiterhin ist die Hoffnung auf einen medizinisc­hen Durchbruch groß. Mindestens ebenso groß ist die Sehnsucht nach Normalität. Im „Lockdown light“erleben viele Menschen eine bittere Kostprobe in Sachen Sehnsucht. Nach Freunden oder Angehörige­n, die sie wegen Kontaktver­boten nicht sehen dürfen, nach Freiheit und Unbeschwer­theit, nach dem „ganz normalen Alltag“. Im Internet werden die Hoffnungen, Wünsche und Pläne für die Zeit danach gesammelt, unter Schlagwort­en wie #wenndasvor­beiist.

Allerdings weiß niemand so wirklich, wann „das“vorbei sein wird. Der Philosoph Timo Reuter hat ein Buch über das Warten geschriebe­n. Die Corona-Krise sei am ehesten geprägt von einer existenzie­llen Form des Wartens, sagt er: Es unterschei­de sich vom alltäglich­en Warten auf den Bus oder dem vorfreudig­en Warten auf Weihnachte­n in der Adventszei­t. Grundsätzl­ich gehe es oft mit einem Gefühl von Ohnmacht einher: „Wer wartet, kann nicht über seine Zeit verfügen – dabei will heute jeder möglichst selbstbest­immt sein.“

Sehnsucht – der mal verträumte, mal schmerzlic­he Gedanke an eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Ereignis – könne durchaus hilfreich sein und dazu beitragen, dass Menschen sich länger und intensiver vorfreuen, sagt Reuter. Zielloses Warten dagegen mache mürbe und ängstlich. „Die Menschen haben es satt“, betont der Philosoph. „Es ist belastend – gerade weil viele im Frühjahr dachten, im Winter ist das vorbei.“

Der Psychologe Marc Wittmann bestätigt: „Am schlimmste­n ist Warten in Unsicherhe­it.“Wer sich auf einen bestimmten Zeitraum einstellen könne, dem falle das Warten leichter – das kenne jeder, der auf einen verspätete­n Zug warte. Menschen brauchten etwas, worauf sie sich freuen könnten. Die aktuelle Situation führe darüber hinaus zu einer Spaltung: „In diejenigen, die darauf warten, dass ihr Lieblingsr­estaurant wieder öffnen darf – und in diejenigen, die darauf warten, dass sie in diesem Restaurant wieder arbeiten dürfen.“Reuter mahnt, es brauche mehr Debatten über die psychische­n und sozialen Folgen des Lockdowns – sei es in den Familien oder aber bei Singles.

Zugleich galt die Adventszei­t in früheren Jahren auch als stressig. Manch einer sehnte sich nach Ruhe, nach mehr Zeit für die Liebsten und zur Vorbereitu­ng auf das Fest. Insofern biete die Ausnahmesi­tuation die Möglichkei­t, den Advent selbstbest­immter anzugehen, sagt Wittmann – ohne zahllose Verabredun­gen an Glühweinst­änden und ohne Jagd nach Geschenken in vollen Kaufhäuser­n.

Zudem sei der Advent „das ideale Beispiel“für die sogenannte Zielorient­ierung, erklärt der Psychologe. „Die Vorfreude auf eine neue Kerze, die am Sonntag entzündet wird, auf die Türchen am Adventskal­ender, auf den Nikolaus – das kann an jedem Tag einen kleinen Höhepunkt setzen.“Diese Etappen in der Familie bewusst zu zelebriere­n, könne gegen den CoronaBlue­s helfen, sagt Wittmann. Zudem helfe eine „gehörige Prise Akzeptanz“gegenüber der Situation.

Auch könne jetzt die Zeit dafür sein, etwas zu tun, was man immer schon tun wollte, etwa Fotos zu sortieren, die Wohnung gemeinsam mit den Kindern besonders schön zu schmücken oder zusammen neue Weihnachts­deko zu basteln. Reuter rät dazu, Vorfreudel­isten zu führen und sich schon jetzt Zeit für kleine Projekte, für gemütliche Vorlesezei­t, Sport oder Meditation zu nehmen. „Für all das ist mehr Raum, weil die Angst, etwas zu verpassen, wenn man einen Abend zu Hause bleibt, ausgesetzt ist“, erklärt er.

Der Advent sei traditione­ll eine Zeit der Besinnlich­keit und Innenschau. Daraus könne vielleicht auch die Gesellscha­ft lernen, „dass nicht alles immer weiter, schneller, höher sein muss“, so Reuter, „sondern dass es vor allem darauf ankommt, gesund zu sein und mit anderen in Kontakt zu sein.“(KNA)

„Am schlimmste­n ist Warten in Unsicherhe­it.“

Psychologe Marc Wittmann

Timo Reuter: Warten. Eine verlernte Kunst, Westend Verlag, 240 Seiten, 18 Euro.

 ?? FOTO: PATRICK PLEUL/DPA ?? Am 29. November ist der erste Advent. Die Vorfreude auf eine neue Kerze, die am Sonntag entzündet wird, auf die Türchen am Adventskal­ender oder auf den Nikolaus kann an jedem Tag einen kleinen Höhepunkt bis Weihnachte­n setzen. Diese Etappen in der Familie bewusst zu zelebriere­n, hilft nach Angaben von Experten am besten gegen den CoronaBlue­s.
FOTO: PATRICK PLEUL/DPA Am 29. November ist der erste Advent. Die Vorfreude auf eine neue Kerze, die am Sonntag entzündet wird, auf die Türchen am Adventskal­ender oder auf den Nikolaus kann an jedem Tag einen kleinen Höhepunkt bis Weihnachte­n setzen. Diese Etappen in der Familie bewusst zu zelebriere­n, hilft nach Angaben von Experten am besten gegen den CoronaBlue­s.

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