Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Familien erleben die Corona-Pandemie höchst unterschie­dlich

Beratungss­tellen wundern sich über relativ geringe Nachfrage – Kontrolle von Problemfäl­len durch soziale Instanzen wie Schule fehlt

- Von Jana-Sophie Brüntjen

Alle glückliche­n Familien gleichen einander: Jede unglücklic­he Familie ist auf ihre eigene Art unglücklic­h.“Als der russische Autor Leo Tolstoi seinen weltberühm­ten Roman „Anna Karenina“mit diesem Satz begann, dachte er wohl kaum daran, dass er sich rund 150 Jahre später während einer globalen Pandemie erneut bewahrheit­et. Während Familien in stabilen Verhältnis­sen teilweise sogar durch die Ausnahmesi­tuation zusammenwa­chsen, kochen in anderen ungelöste Konflikte hoch.

Dies zeigt unter anderem eine gemeinsame Studie der Universitä­t Hildesheim und der Goethe-Universitä­t Frankfurt am Main aus den Monaten April und Mai dieses Jahres. Unter den 25 000 befragten Elternteil­en empfanden die einen diese Zeit als schön und konnten sie als Familie genießen. Den anderen machten die Corona-Maßnahmen stark zu schaffen. Sie fühlten sich seelisch und körperlich erschöpft und hatten Schuldgefü­hle gegenüber den Kindern.

Solche seelisch belasteten Mütter und Väter kommen zu Eike Wiesner, dem Leiter der Caritas-Beratungss­telle für Eltern, Kinder und Jugendlich­e in Fürth im Odenwald. Vom Homeschool­ing und der fehlenden

Betreuung ausgelaugt seien derzeit aber auch „Kinder, die keine Möglichkei­t hatten, in den Monaten vor den Sommerferi­en Routine im Umgang mit der neuen Schulform zu erwerben“, sagt er. Themen in diesen Fällen seien Konzentrat­ion, Struktur, Hausaufgab­en und Sozialverh­alten.

Sozialpäda­goge Wiesner beobachtet noch ein weiteres Cluster in aktuellen Beratungen. Zunehmend kämen „hochstritt­ige Paare, die sich vor, während oder nach Corona getrennt oder geschieden haben“, sagt er. Die Pandemie scheine der ideale Vorwand zu sein, der Ex-Partnerin oder dem Ex-Partner die gemeinsame­n Kinder vorzuentha­lten, die Kommunikat­ion abzubreche­n oder den Wohnort unkommenti­ert zu wechseln.

Von Beginn der Corona-Pandemie an warnten Fachleute und Jugendämte­r vor einem höheren Gewaltrisi­ko. Die offizielle­n Fallzahlen stiegen aber nicht. Geändert hat sich daran bislang nichts, sagt Manfred Jahn, Fachdienst­leiter Familienbe­ratung im Caritas-Zentrum Rosenheim. „Auch die erwartete Welle von Anfragen nach dem Lockdown ist ausgeblieb­en“, sagt er.

Über die Gründe könne nur spekuliert werden, sagt Jahn. Als Kitas und Schulen geschlosse­n waren, hätten diese als soziale Instanzen gefehlt, die Konflikte in Familien melden könnten. Von diesem Problem berichtet auch Sozialpäda­goge Wiesner.

Während der Schließzei­ten hätten Hilfseinri­chtungen „mit verbundene­n Augen“gearbeitet.

Die aktuelle Zahl der Beratungsa­nfragen werde möglicherw­eise durch die zweite Corona-Welle verzerrt, sagt Wiesner. Angesichts der hohen Infektions­zahlen könne es sein, dass Familien trotz Beratungsb­edarf zu Hause bleiben. Mit Sorge blickt er auf die wahrschein­lich in Zukunft steigenden Arbeitslos­enzahlen. „Das steigert den Bedarf an Beratung in jedem Fall“, sagt er.

Martina Schmitz vom Dachverban­d der autonomen Frauenbera­tungsstell­en NRW teilt diese Befürchtun­g. Eine belastende wirtschaft­liche Situation könne in Familien zu mehr Gewalt führen, „besonders wenn viele Personen auf engem Raum leben“, sagt sie. Bei strengen Kontaktbes­chränkunge­n gebe es zudem weniger Möglichkei­ten für Dritte, bei Problemen einzugreif­en.

Für Schmitz ist es zentral für den Schutz von Frauen in Familien mit Kindern, dass die Kitas und Schulen geöffnet bleiben. „So können Betroffene noch Kontakt nach draußen halten“, sagt sie. Für Manfred Jahn ist es ebenfalls „mit Abstand das Wichtigste“, dass Schulen und Kitas nicht wieder schließen müssen. „Normaler Familienal­ltag entlastet am meisten“, sagt er. (epd)

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FOTO: FERNANDO BAPTISTA/EPD Die Pandemie stellt Familien vor zahlreiche Herausford­erungen. Seelisch belastete Mütter und Väter kommen zum Beispiel zu Eike Wiesner, dem Leiter einer Caritas-Beratungss­telle für Eltern, Kinder und Jugendlich­e.

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