Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Schande von Sevilla
Trotz des 0:6-Debakels in Spanien hält der DFB an Bundestrainer Joachim Löw fest
Nations League, Gruppe A1: Bosnien-Herzeg. – Italien 0:2 (0:1), Polen – Niederlande 1:2 (1:0). – Gruppe A2: Belgien – Dänemark 4:2 (1:1), England – Island 4:0 (2:0). – Gruppe B1: Nordirland – Rumänien 1:1 (0:0), Österreich – Norwegen 1:1 (0:0). Gruppe B2: Israel – Schottland 1:0 (1:0), Tschechien – Slowakei 2:0 (1:0). – Gruppe B3: Serbien – Russland 5:0 (4:0), Ungarn – Türkei 2:0 (0:0). – Gruppe B4: Irland – Bulgarien 0:0, Wales – Finnland 3:1 (1:0). – Gruppe C2: Armenien – Nordmazedonien Nikosia 1:0 (0:0), Georgien – Estland 0:0. – Gruppe 3: Griechenland – Slowenien 0:0, Kosovo – Moldau 1:0 (1:0). – Gruppe 4: Albanien – Belarus 3:2 (3:1), Kasachstan – Litauen 1:2 (1:1).
Das wegen Norwegens Corona-Quarantäne ausgefallene Nations-League-Spiel der Skandinavier in Rumänien wird von der UEFA als ein 3:0-Sieg für die Gastgeber gewertet.
SEVILLA (SID) - Der angezählte Joachim Löw stand seinen Vorgesetzten Oliver Bierhoff und Fritz Keller nach dem Ende der desaströsen Dienstreise Rede und Antwort – nach einem halbstündigen Krisengespräch im VIP-Terminal des Münchner Flughafens stand fest: Löw bleibt trotz der zweithöchsten Niederlage der deutschen Länderspiel-Geschichte Bundestrainer. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Trennung.
DFB-Direktor Bierhoff und Verbandspräsident Keller werteten das historische 0:6 (0:3)-Debakel in Spanien als „einmaligen Blackout“. Im „Krisenmodus“sieht sich der Deutsche Fußball-Bund daher nicht. „Unsere junge Mannschaft kann an diesem herben Rückschlag wachsen“, sagte Keller. Die Zusammenkunft nach der Landung war schon länger geplant. Die Botschaft: Alle sind vom eingeschlagenen Weg überzeugt, auch wenn dieser „steinig sein“und zu „schmerzhaften Niederlagen führen“könne, so Keller.
Nach dem Schulterschluss machten sich Löw und Keller gemeinsam auf den Weg nach Freiburg. Bierhoff stand bereits kurz nach dem Abpfiff der Schmach von Sevilla felsenfest hinter Löw. „Das Vertrauen ist vollkommen da, absolut“, sagte er. Dennoch wollten Löw und seine schwer gedemütigten Spieler schnell weg – sie verließen den Ort der Schande noch vor dem Morgengrauen.
Trotz der Rückendeckung von Verbandsseite wächst der Druck auf den ratlos wirkenden Bundestrainer nach dem kompletten Systemabsturz beim Jahresabschluss massiv. Der 60-Jährige ist angesichts der höchsten Niederlage seit 89 Jahren in Erklärungsnot, zweieinhalb Jahre nach dem WM-Desaster steht er vor den Trümmern seiner ohnehin kritisch begleiteten Aufbauarbeit. Die für ihn nervige Dauerdiskussion über eine mögliche Rückkehr der aussortierten 2014er-Weltmeister Thomas Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng ist nur einer von zahlreichen Bränden, die Löw auf dem Weg zur EM löschen muss.
„Es hat überhaupt nichts funktioniert. Deswegen sind wir riesig enttäuscht und sauer“, sagte Löw und sah bei seiner völlig hilflosen Mannschaft eine lange Mängelliste: „Keine Organisation, keine Kommunikation, keine Zweikampfhärte, kein Zweikampfverhalten.“Löws Erkenntnis: „Das war tödlich.“
Auf dem Rückflug grübelte Löw über seine offenen Baustellen. Die Zeit ist knapp: Bis zur Nominierung seines vorläufigen EM-Kaders bleibt nur noch der Länderspiel-Dreierpack im März. „Wir müssen die richtigen Schlüsse ziehen“, sagte Löw und gestand ernüchtert ein: „Wir dachten, dass wir schon weiter sind.“
Löw will nun schauen, „was der richtige Weg“ist. Für viele Experten ist dieser klar. „Der Bundestrainer und sein Team haben eine Meinung dazu, ich persönlich habe leider eine andere. Solche Spieler wie Jérôme Boateng und Thomas Müller haben das Triple gewonnen, mit der besten Mannschaft in Europa. Die spielen da in der ersten Elf und haben Qualität. Warum nicht für die Nationalmannschaft?“, sagte der ARD-Experte Bastian Schweinsteiger. RekordNationalspieler Lothar Matthäus legte sich fest: „Man braucht diese Führungsspieler
Er scheint da sehr stur zu sein.“Die Diskussion müsse aber geführt werden. Sollte Löw sich zur Rückholaktion durchringen, „wäre das kein Gesichtsverlust, es wäre ein Zeichen von Stärke“, so Hamann: „Ich glaube,
Niederlage.“
Davon will Löw erst einmal nichts wissen. Für eine Rückholaktion gebe es aktuell „keinen Grund“. Das Vertrauen in seine Spieler sei „jetzt nicht völlig erschüttert“. Man müsse die Situation um Hummels, Müller und Boateng „zum richtigen Zeitpunkt bewerten“, betonte der Weltmeistercoach von 2014. nach so einer
Sein Kapitän ist da etwas offener. Die aussortierten Spieler „könnten uns grundsätzlich helfen, das haben sie ja oft genug bewiesen“, sagte Torhüter Manuel Neuer der „Sport Bild“schon vor seinem so unwürdigen Rekordspiel, der Nr. 96.
Was Löw ernsthaft Sorge bereiten muss, ist die Tatsache, dass in Sevilla größtenteils die Mannschaft auf dem Platz stand, die er sich auch für die EM vorstellt. Nur Joshua Kimmich und Antonio Rüdiger fehlten von den absoluten Leistungsträgern. Daher fand nicht nur Schweinsteiger die Leistung „entsetzlich“. So dürfe man „als deutsche Nationalmannschaft nicht auftreten“.
Im Mittelfeld tauchten Toni Kroos und Ilkay Gündogan völlig ab. Die Abwehr um Niklas Süle verdiente ihren Namen nicht, das Turbo-Trio im Sturm um Timo Werner zündete auch nicht. „Wir hatten keine Chance. Jetzt weiß man, wo man steht. Das gibt uns Grund zum Nachdenken“, sagte Serge Gnabry – auch wenn der DFB die Trainerdiskussion, die Matthäus für „angebracht“hält, im Keim erstickte. Immerhin: Schweinsteiger traut seinem ehemaligen Chef die Wende zu: „Er hat die Erfahrung und die Klasse, es umzubiegen.“Das muss Löw jetzt beweisen.