Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Ende einer Kindesverschleppung
Nach Jahren in der Gewalt der Terrormiliz IS und Krimineller kehren jesidische Kinder zurück
ERBIL - In der luxuriös ausgestatteten VIP-Empfangshalle des Flughafens der Kurdenhauptstadt Erbil im Nordirak blicken zwei Kinder scheu an der Kamera vorbei, die auf sie gerichtet ist, eine junge Frau hat sacht die Arme um sie gelegt. Es ist ihre ältere Schwester Hadye, die sie schon seit so vielen Jahren nicht mehr gesehen haben. An diesem Tag endet für Emir und Emira Hudeda Huseyin eine Odyssee, die im Sommer 2014 begonnen hatte, als die Terroristen des „Islamischen Staates“ihre Heimat überfielen, die Shingal-Region im Nordirak. Am Abend dieses Tages kommen sie sicher in einem Flüchtlingslager an – ein Camp wie Mam Rashan oder Sheikhan, die aus Mitteln der Weihnachtsspendenaktion „Helfen bringt Freude“seit 2016 unterstützt werden.
Im Sommer 2014 ist Emir vier Jahre alt, seine Schwester Emira ist sechs. Sie haben sechs Geschwister, ihre Schwester ist bereits verheiratet und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Sie sind Jesiden, Angehörige einer religiösen Minderheit, die von der muslimischen Mehrheitsgesellschaft im Irak schon seit jeher mit Argwohn betrachtet wird. Immer wieder ist die jesidische Minderheit in der irakischen Geschichte zum Ziel von Hass und Angriffen geworden.
Emir und Emira sind nach 2007 geboren, dem Jahr, in dem der Hass zuletzt in mörderische Gewalt umschlug. Am 14. August dieses Jahres zündeten drei Selbstmordattentäter Al-Kaidas in Til Izir, dem Dorf, in dem die Familie lebt, ihre Autobomben. Auch ein Nachbardorf, Siba Scheich Khidir, wird angegriffen. Fast 800 Menschen sterben, über 1500 werden zum Teil schwerst verletzt. Fast genau auf den Tag sieben Jahre später überrollen die Fanatiker des „Islamischen Staates“die Region. Der „Islamische Staat“ist eine Steigerung von Al-Kaida: noch brutaler, noch skrupelloser.
Die Dschihadisten wüten gnadenlos, treiben Hunderttausende in die Flucht. Wer nicht fliehen kann, erleidet ein grausames Schicksal. Allein im Dorf Kocho ermorden die Fanatiker 600 Männer, sie enthaupten und erschießen sie, verbrennen sie bei lebendigem Leib. Tausende Frauen und Kinder geraten in ihre Gefangenschaft. Die Familie von Emir und Emira schafft es nicht rechtzeitig heraus aus Til Izir. Auch sie wird entführt. In den Jahren danach verliert sich die Spur der Kinder in den Wirren des Krieges.
Im Januar 2018 erhält Irfan Ortac einen Anruf. Am Telefon ist Hadye, die Schwester der beiden Kinder. Sie erzählt, sie habe erfahren, dass ihre Geschwister in der Türkei seien, in einem staatlichen Kinderheim bei Ankara. „Sie hat mich gefragt, ob ich ihr helfen könne, die Kinder in den Irak zu holen“, erinnert sich Ortac. Er ist der Vorsitzende des Zentralrats der Jesiden in Deutschland (ZED) und stammt selbst aus der Türkei. Ortac sichert der jungen Frau seine Hilfe zu. Es beginnt ein diplomatisches und juristisches Tauziehen.
Immer wieder fliegt Ortac in die Türkei, um über die Übergabe der Kinder zu verhandeln. Die türkischen Behörden verlangen einen DNA-Test, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich die Geschwister von Hadye sind. Als der Beweis erbracht ist, verweigert ein Amtsgericht die Entlassung der beiden aus der staatlichen Obhut. „Das Gericht meinte, sie seien in dem Heim besser aufgehoben als in einem Flüchtlingscamp im Irak“, erzählt Ortac.
Es stellt sich heraus, dass Emir und Emira von Turkmenen aus Tel Afar im Nordirak entführt wurden, die sich dem „Islamischen Staat“angeschlossen hatten. Als sich der Niedergang des Terrorkalifats abzeichnet, retten sich die Entführer mit den Kindern in die Türkei, wo sie unbehelligt leben. Mitte 2017 entdeckt Hadye im Darknet, jenen dunklen Tiefen des Internet, in denen Kriminelle ihr Unwesen treiben, Hinweise auf ihre Geschwister. Sie stehen zum Verkauf. Offenbar wird ihren Entführern die Sache jedoch zu heiß und sie übergeben die beiden in staatliche Obhut. Sie werden offenbar nicht gefragt, woher die Kinder eigentlich kommen.
Der Zentralratsvorsitzende macht in türkischen Medien auf den Fall aufmerksam, schaltet den türkischen Botschafter in Deutschland ein, lässt einen Anwalt Strafanzeige wegen Kindesentführung stellen, schreibt an den türkischen Außenminister. Nach diesem Schreiben kommt Bewegung in den Fall. „Zwei Tage später hat sich der Botschafter gemeldet und gesagt, die Kinder könnten dem kurdischen Ministerpräsidenten Nerchivan Barzani übergeben werden.“Tatsächlich holt Barzani Emir und Emira bei einer Delegationsreise nach Hause. Als die beiden in Erbil landen, sprechen sie nur Türkisch.
Heute leben die Kinder bei ihrer Schwester und ihrem Bruder in einem Flüchtlingscamp in der kurdischen Region im Nordirak. Es gehe ihnen vergleichsweise gut, sagt Irfan Ortac, sie hätten wieder in ihre Muttersprache zurückgefunden. Ihre Eltern, vier ihrer Geschwister und der Sohn von Hadye sind aber noch immer verschwunden. So wie 2880 andere jesidische Frauen und Kinder. Die kurdische Regierung in Erbil hat eine eigene Abteilung zur Rettung der Entführten eingerichtet. Bislang konnten rund 3500 Frauen und Kinder gerettet werden.
Was die von den Terroristen entführten Menschen durchleiden mussten, zeigte sich schon im Januar 2015. Damals kaufte die kurdische Regierung die ersten 234 Jesiden aus der Geiselhaft des „Islamischen Staates“frei. In Lalisch, dem wichtigsten Wallfahrtsort der Jesiden, hatten einige der Befreiten seinerzeit Zuflucht gefunden. Murat Khalaf Ali, ein alter Mann Anfang 70, Veteran aus dem Krieg gegen den Iran in den Achtziger-Jahren, in dem er ein Bein gelassen hatte, berichtete damals von seinem Martyrium.
Wie seine Familie zunächst nach Tel Afar verschleppt wurde, wo die Terroristen bereits 3000 Jesiden in einer ummauerten Siedlung gefangen hielten. „Sie haben dort alle Frauen,
die keinen Mann mehr hatten, und 300 junge Mädchen aussortiert und nach Syrien gebracht.“Wie es dann zwei Monate später weiter nach Mossul ging, damals Hauptstadt des Kalifats, wo der alte Mann und seine Familie mit Hunderten anderer Familien in einer Hochzeitshalle zusammengepfercht wurden.
Dort, wo vor dem Krieg ausgelassen gefeiert wurde, herrschte nun unbeschreibliches Elend. „Wir mussten zuschauen, wie sie Menschen enthaupteten, die versucht haben zu fliehen. Sie haben Kinder aus den Armen ihrer Mütter gerissen“, erzählte Murat Khalaf Ali. Kinder wie die Töchter von Khunau Khalaf Qassem und Najat Hawdi Rasho, die im Januar 2015 ebenfalls befreit worden waren. Auch sie waren in der Hochzeitshalle in Mossul. „Meine Tochter ist neun Jahre alt. Sie haben sie mir weggenommen und gesagt, sie sei alt genug, um verheiratet zu werden“, berichtete Frau Rasho mit tonloser, brüchiger Stimme und glanzlosen Augen.
Frau Qassems Tochter Hadia war im Januar 2015 ebenfalls noch verschwunden, gerade einmal zwölf Jahre alt. Auch von ihren beiden Söhnen gab es keine Spur, nur die Schwiegertochter hatte sich retten können, nachdem sie wochenlang von einem Mann zum nächsten weitergereicht worden war. „Diese Leute haben uns vernichtet“, seufzte Frau Qassem, und Murat Khalaf Ali sagte: „Wir haben immer nur gebetet und geweint, wir haben so sehr darauf gehofft, dass irgendwer Mossul bombardiert und eine Bombe den
Saal trifft, damit wir sterben und es hinter uns haben.“
Für die Freilassung der Geiseln hatte die kurdische Regierung damals 1,5 Millionen Dollar bezahlt. Für die US-Amerikaner, die an der Spitze der Koalition gegen den „Islamischen Staat“standen, war das seinerzeit ein Tabubruch. Terrorfinanzierung. Ein Dilemma, das bis heute nicht gelöst ist und das auch Irfan Ortac Kopfzerbrechen bereitet. „Diese Entführer sind Verbrecher und sie verdienen bis heute Geld mit ihren Opfern“, sagt der Zentralratsvorsitzende.
Wie Hadye, die Schwester von Emir und Emira, stoßen auch Ortac und seine Mitstreiter im Darknet immer wieder auf Angebote von Tätern, die entführte Jesiden zum Freikaufen anbieten, sehr häufig aus der Türkei. „Das ist Menschenhandel“, konstatiert Ortac nüchtern. „Wir haben im Zentralrat immer wieder darüber diskutiert, wie wir damit umgehen sollen.“Für ihn ist klar: „Wir müssen diesen Menschen helfen, damit sie wieder nach Hause kommen können.“
Das Geschäft, sagt Ortac, läuft über Mittelsmänner, die den Kontakt mit den Kidnappern herstellen und Beweise wie Bilder vorlegen, dass es sich tatsächlich um entführte Jesiden handelt. Für eine Freilassung zahlt der Zentralrat pro Person etwa 10 000 Dollar. Bislang konnte der ZED drei Kinder und eine Frau freikaufen. Warum die türkischen Behörden nicht aktiver gegen die Menschenhändler vorgehen? Ortac schweigt diplomatisch.
... dass die Inneneinrichtung des Schulgebäudes – wie beispielsweise Tische, Tafeln, Stühle – bereitgestellt werden kann. Es entstehen acht Klassenräume für die Schulklassen 1 bis 8 und zehn Klassenräume für eine Berufsschule. Ebenso benötigen wir Spenden für die Beschaffung von Nahrungsmitteln.
Für die Zukunft unseres Projektes hoffen und wünschen wir uns, ...
… nach dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“den Menschen vor Ort die Möglichkeit zu geben, ein respektvolles Leben mit geleisteter Arbeit in gut ausgebildeten und fair bezahlten Berufen selbstständig und in Selbstachtung zu gestalten.
Fluchtursachen bekämpfen, menschenwürdiges Leben ermöglichen: Diesen Schwerpunkt setzen wir auch in diesem Jahr mit unserer Weihnachtsspendenaktion. Die Spenden kommen der Hilfe für Menschen im Nordirak, ehrenamtlichen Initiativen und Caritasprojekten in Württemberg sowie in Lindau zugute.
Ihre Spende hilft Menschen, in ihrer Heimat bleiben zu können und nicht fliehen zu müssen. Und sie hilft Geflüchteten hier bei uns in der Region.
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