Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Ravensburger Hausarztpraxen sind extrem belastet
Teufelskreis verhindert zum Teil Ausbildung von Nachwuchs – Mit diesen Folgen müssen Patienten rechnen
RAVENSBURG - Bei einer Erkältung ist sie die erste Anlaufstelle für eine medizinische Versorgung: die Hausarztpraxis. Seit mehreren Jahren mangelt es dort jedoch an Personal. Die Corona-Pandemie verstärkt das Phänomen zusätzlich. Arzthelferinnen kommen nicht nur an ihre körperlichen Grenzen. Zwei Ravensburger Hausärzte berichten, inwiefern sie betroffen sind und womit Patienten nun rechnen müssen.
Der Hausärzteverband BadenWürttemberg klagt über einen Fachkräftemangel in ambulanten Praxen. „In der letzten Zeit hören wir aus den Praxen, dass es schwer ist, Personal zu finden“, sagt Manfred King, Sprecher des Hausärzteverbands. Er fordere die Politik auf, in der aktuellen Diskussion um bessere Bezahlung nicht nur den stationären Bereich in den Blick zu nehmen, sagt er. Dass überall nur von der Personalnot der Kliniken gesprochen werde, sei „irritierend“.
King betont: „Der ambulante Bereich der niedergelassenen Praxen darf nicht vergessen werden.“Wenn Hausärzten das Personal fehle, müssten sie ihren Praxisbetrieb auf die vorhandenen Kapazitäten einstellen. Die Folge: Im schlimmsten Fall könnten weniger Patienten versorgt werden. Ein Szenario, das bei aktuell sehr hohen Corona-Infek-tionszahlen verheerend wäre.
Die Praxis von Michael Weinkauff am Marienplatz sucht seit einem Dreivierteljahr eine weitere medizinische Fachangestellte, um die zusätzliche Belastung aufzufangen. Er berichtet der „Schwäbischen Zeitung“außerdem, dass Engpässe in der Corona-Zeit bisher nur wegen des Engagements der Arzthelferinnen gemeistert wurden. „Die Praxis ist durch Corona sehr belastet“, sagt Weinkauff. Letztendlich beträfen die Folgen Patienten. „Wegen des knappen Personals müssen wir ab 2021 eventuell die Praxisöffnungszeiten reduzieren“, erklärt Weinkauff.
Fehlende Kapazitäten führen zu einem Teufelskreis: Es fehlt an Personal, um neues ausbilden zu können. Weinkauffs Meinung nach spielen mehrere Gründe eine Rolle für den akuten Notstand. „Aufgrund der Personalknappheit ist das Patientenverhalten für die Mitarbeiterinnen sehr frustrierend, da zum Teil wenig Verständnis aufgebracht wird.“Als weitere Gründe könne sich der Arzt die geringe Bezahlung vorstellen und das erhöhte Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Der Mediziner fürchtet, dass wegen der Belastung auch einige Fachangestellte abwandern.
Über die Arzthelferinnen in seiner Praxis sagt er: „Meine Mitarbeiterinnen sind arbeitsmäßig extrem belastet. Vor allem durch die hohe
Zahl der Anrufe ist die Praxis gelegentlich nicht mehr erreichbar. Es stellt eine starke psychische Belastung dar.“
Die Corona-Schwerpunktpraxis von Rainer Urbach in Ravensburg behandelt pro Tag circa 100 Patienten. Eine räumliche Trennung und zwei Eingänge sorgen dafür, dass Sprechstundenpatienten und potenzielle Corona-Fälle nicht aufeinander treffen. „Wir machen 20 CoronaAbstriche pro Tag“, sagt Rainer Urbach. Die Praxis arbeitet mit sechs Ärzten und zehn Arzthelferinnen auf Hochtouren. Die Telefonleitungen glühen. „Es kommt natürlich vor, dass auf unseren drei parallel geschalteten Leitungen momentan eine gewisse Wartezeit besteht.“Urbach
betont, dass die Belastung unter den Sprechstundenhilfen um ein Vielfaches höher sei als unter den Ärzten. Viele Patienten suchen telefonisch Kontakt – zumal aktuell auch Krankschreibungen auf diesem Weg ausgestellt werden, so Urbach. „Wir haben allgemein weniger Patienten, die in die Sprechstunde kommen. Wir vermuten, dass sie Angst haben, sich in der Praxis zu infizieren, was jedoch unbegründet ist.“Die Gesamtauslastung sei allerdings aufgrund des Coronavirus höher als in den vergangenen Jahren. Der Hauptstressfaktor für die Mitarbeiterinnen sei die stetige und sehr schnelle Veränderung der Corona-Richtlinien. „Die Arbeitsbelastung hat zugenommen“, erklärt Urbach. Deswegen
wollte die Praxis eine weitere Fachkraft einstellen.
Urbach erkennt einen Trend, der nicht erst seit diesem Jahr signifikant steigt. Pro Jahr gebe es immer weniger Bewerbungen potenzieller Auszubildender und Fachkräften. Seiner Meinung nach hat nicht nur die aktuelle Lage Schuld daran. Generell sei die Bezahlung zu schlecht und die Chance auf Aufstiegsmöglichkeiten zu gering.
Dass das Patientenverhalten Arzthelferinnen abschreckt, bezweifelt er. „Wir bemerken zwar eine große Frustration während der Corona-Zeit. Aber diese ist nicht persönlich gegen das medizinische Personal gerichtet“, erklärt der Allgemeinarzt.