Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Einsam im Krankenhaus
Betroffene fordert angemessenen Umgang mit den Patienten
Überlingen
Münster-Apotheke, Münsterstr. 1, 07551/ 63329, So. 8.30-Mo. 8.30 Uhr
Hilfe & Beratung
Behördennummer 115, bundeseinheitliche Rufnummer, aus dem Festnetz zum Ortstarif, kostenlos bei Festnetz-Flatrate, Mobilfunktarife können abweichen
Kinder- und Jugendtelefon des Deutschen Kinderschutzbundes, gebührenfrei, Europanummer: 116111 Telefonseelsorge, gebührenfrei, 0800/ 1110111, 0800/ 1110222 Weißer Ring - Hilfe für Kriminalitätsopfer, kostenfreie, bundesweite Rufnummer, 116006 Bodenseekreis
Feuerwehr, Rettungsdienst und Notarzt,
Polizei,
Tettnang
Stör- und Gasgeruchsmeldung, 07542/ 9379-299, Regionalwerk Bodensee, Waldesch 29
Tettnang
Entsorgungszentrum Sputenwinkel, Prinz-Eugen-Str., 8-11.45 Uhr, 1316.45 Uhr
BODENSEEKREIS - Ein Klinikaufenthalt zu Corona-Zeiten bedeutet für viele Patienten Einsamkeit. Durch Besucherstopps ist der Kontakt zu Freunden und Angehörigen abgeschnitten. Und manchmal gehen Patienten in diesem neuen Klinikalltag einfach verloren. So wie beim Medizin Campus Bodensee, zu dem neben dem Klinikum Friedrichshafen auch die Klinik Tettnang gehört.
Claudia Sengenhoff-Neitz ist traurig. Traurig über den Verlust ihrer Mutter, aber vor allem darüber, was diese in ihren letzten drei Wochen im Häfler Klinikum erleben musste. Niemals hätte SengenhoffNeitz damit gerechnet, dass ihre bis dahin rüstige Mutter nicht mehr nach Hause kommen würde.
Dem Krankenhausaufenthalt der 91-Jährigen vorausgegangen waren zwei Schwächeanfälle beim Spaziergang, mit dem Ergebnis, dass eine Arterie zum Herzen verstopft sei und nur eine Operation helfen könne. Also begab sich die Dame ins Krankenhaus. Und weil wegen des neuartigen Coronavirus Krankenbesuche derzeit nicht gestattet sind, außer für sterbende Menschen und kleine Kinder, verbrachte die 91-Jährige mehrere Tage allein.
Einziger Kontakt nach draußen seien die unter Zeitdruck stehenden Pfleger, die beiden Zimmernachbarinnen, das Telefon und ein Tablet gewesen, auf dem sich die „Krankenzimmer-WG“gemeinsam den Tag mit dem Gucken von Soaps die Zeit vertrieb. „So ein Tag im Krankenhaus ist lang und im Zimmer gab es keinen Fernseher“, berichtet SengenhoffNeitz. In anderen Häusern gebe es sogenannte Bedside-TV-Geräte an jedem Bett.
Auf Nachfrage bestätigt das Klinikum: „Im Frühsommer 2020 haben wir auf zwei Stationen des Klinikums die Fernseher probeweise demontiert“und „in den drei Folgemonaten monitort, ob es deshalb zu Patientenbeschwerden kommt. Dem war nicht so.“Man arbeite derzeit an einer tragfähigen und zukunftsweisenden Lösung. Allerdings seien die Patienten der Komfortplus-Station von dieser Maßnahme nicht betroffen: „Sie haben moderne LCD-TV-Geräte am Bett“, teilt das Klinikum mit.
Weiter führt die Pressestelle aus: „Das Durchschnittsalter der Patienten beträgt etwa 54 Jahre – das spricht dafür, dass die Patienten jung genug sind, um ein Buch lesen zu können oder auch, um ein mobiles Endgerät zu nutzen.“Diese könne man auch im Klinikum ausleihen. Eine weitere Studie zeige, dass die 35bis 54-Jährigen wochentags zu fast zwei Dritteln ein Smartphone nutzen würden, um sich zu informieren. Nur die Hälfte davon lese in dieser Altersgruppe eine Zeitung oder Zeitschrift.
Patienten, die zu schwach oder zu alt sind, ein Buch zu lesen oder ein Tablet über gewisse Zeit zu halten, werden an dieser Stelle einfach vergessen, moniert Sengenhoff-Neitz, die selbst in der Pflege arbeitet: „Sie verbringen lange Tage im Krankenhaus ganz alleine.“
Das Klinikum selbst bedauert auch die notwendigen Kontaktbeschränkungen: „Wir wissen natürlich, dass der persönliche Kontakt mit den Angehörigen oder Freunden zur Genesung unserer Patienten beiträgt“, teilt die Pressestelle mit. Allerdings
lasse die aktuelle Lage derzeit keine andere Wahl, als die Besuche auf ein Minimum zu beschränken.
Professorin Renate Schepker vom Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg wirbt um Verständnis: „Die Kontaktbeschränkungen im Krankenhaus sind ja dazu da, alle Patienten des Krankenhauses und auch das medizinische Personal zu schützen.“Man habe im Krankenhaus eigentlich viel Kontakt, sagt die Psychotherapeutin, „zum Pflegepersonal, zu Servicemitarbeitern, zu Ärzten. Auf jeden Fall mehr als zu Hause.“Die Gefahr einer Vereinsamung sei im Krankenhaus weniger gegeben.
Grundsätzlich sei es empfehlenswert, sich für einen stationären Aufenthalt Zeitschriften, Bücher, Rätsel, Stift und Papier einzupacken. „Gut sind auch Hörbücher und Kopfhörer“, rät Schepker. Und wen im Krankenhaus die Angst packe, dem rät die Fachfrau für seelische Fragen, diese „einzufangen“, indem man sie in einem Telefonat mitteile, sie in einen Brief oder Chat schreibe oder diese in ein Bild male.
Außerdem könne man Telefonoder Videokontakte auf eine bestimmte Zeit am Tag verabreden. „Patienten brauchen auf jeden Fall eine funktionierende, gut ablesbare Uhr“, sagt Schepker. Und wenn die Welt draußen die Kontaktzeiten zuverlässig einhalte, sei schon viel gewonnen. „Angehörige können trotz Besuchsverbot außerhalb von Intensivstationen Blumen ins Krankenhaus schicken. Und nicht nur Kindern hilft, wenn sie einen kleinen Mutmacher, etwa ein Kuscheltier, dabei haben“, zählt Renate Schepker auf.
Sengenhoff-Neitz hielt zunächst telefonisch Kontakt mit ihrer Mutter, der es dann immer schlechter ging. Nur durch Zufall habe sie erfahren, dass Patienten, die länger als sechs Tage stationär versorgt werden und keine Covid-19-Patienten sind, täglich eine Stunde besucht werden dürfen. „Vom Krankenhaus hat uns niemand darauf hingewiesen. Die Auskunft bekam ich erst auf Nachfrage“, sagt Sengenhoff-Neitz.
„Als ich meine Mutter wiedersah, lag sie quasi im Sterben. So sehr hatte sie abgebaut.“Das belastet die sonst so positive Frau. In ihren Augen sei es wichtig, dass unsere Gesellschaft lernt, mit dem neuartigen Coronavirus umzugehen. „Das Virus wird uns noch eine ganze Zeit begleiten. Wir müssen lernen, damit zu leben und angemessen darauf einzugehen.“
117
Notruf 112 Notruf 110