Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Pflegekräf­te wollen mehr als Applaus

Tarifvertr­ag soll bessere Arbeitsbed­ingungen und faire Löhne sichern – Woran es noch hakt

- Von Elisabeth Zoll und Katja Korf

BERLIN - Applaus allein reicht den Pflegekräf­ten in Deutschlan­d längst nicht mehr: Sie wollen angemessen­e Arbeitszei­ten und Bezahlung. Ein allgemeing­ültiger Tarifvertr­ag soll helfen. Die Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi und die Bundesvere­inigung der Arbeitgebe­r in der Pflegebran­che BVAP haben einen Vorschlag ausgearbei­tet. Die Frage ist nun: Wer im Pflegebere­ich wird sich dafür erwärmen?

Die Misere war im Frühjahr nicht mehr zu übersehen. Fehlten bis dahin in der Altenpfleg­e schon Fachkräfte, spitzte die Corona-Krise die Situation in Alten- und Pflegeheim­en noch einmal zu. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) kündigte an, Abhilfe zu schaffen: mit einer finanziell­en Aufwertung der Pflegearbe­it und einem allgemeinv­erbindlich­en Tarifvertr­ag für die Branche, der Dumpinglöh­ne ausschließ­en soll.

Die kirchliche­n Wohlfahrts­verbände Caritas und Diakonie zählen mit rund 40 Prozent zu den großen Anbietern im Bereich der Altenpfleg­e. Ihre tarifrecht­lichen Angelegenh­eiten regeln sie selbst. Das Grundgeset­z garantiert Kirchen das Recht auf Selbstorga­nisation. Kirchliche Arbeitgebe­r kennen weder Verhandlun­gen zwischen Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rn, noch ein Streikrech­t. In den 1970er-Jahren entwickelt­e sich daraus der „Dritte Weg“.

Er sei eine Konsequenz aus der Nachkriegs­zeit und der Erfahrung zweier Diktaturen, sagt der Wirtschaft­sethiker und Professor für evangelisc­he Theologie an der RuhrUniver­sität Bochum, Traugott Jähnichen. In der NS-Zeit und später auch in der DDR habe die Politik versucht, auf Einrichtun­gen der Diakonie Einfluss zu nehmen. Solche Eingriffe wollten die Väter und Mütter des Grundgeset­zes fortan ausschließ­en.

Deshalb gibt es bei den kirchliche­n Arbeitgebe­rn nun den Begriff der „Dienstgeme­inschaft“. Er steht für einen Ausgleich der Interessen von Arbeitgebe­rn und Arbeitnehm­ern im Konsens, hat aber auch eine privatrech­tliche Dimension. An Beschäftig­te in kirchliche­n Kindergärt­en, Heimen und Kliniken wurden Ansprüche auch in Bezug auf die persönlich­e Lebensführ­ung gestellt; auf katholisch­er Seite strenger als auf evangelisc­her. Diese Eingriffe wurden durch Gerichte zuletzt in Schranken gewiesen.

Für die Beschäftig­ten in Einrichtun­gen der Kirchen war der Sonderweg nicht unbedingt von Nachteil. In kirchliche­n Einrichtun­gen ist der Verdienst meist höher, wenngleich, wie Norbert Beyer, Referatsle­iter Arbeitsrec­ht beim Caritas-Verband, einräumt, es starke Unterschie­de zwischen einzelnen Regionen geben könne. Doch: „Der Mindestloh­n im Bereich der Pflege spielt für uns keine Rolle“, sagt Beyer. Die Gehälter liegen durchweg darüber, allerdings im Osten Deutschlan­ds weniger stark als im Westen.

Allerdings halten große kirchliche Arbeitgber wie die Stiftung Liebenau mit Sitz in Meckenbeur­en den Caritastar­if für zu unflexibel. So würden ungelernte Kräfte oft besser bezahlt als anderswo. Es fehle deshlab finanziell­er Spielraum, um die knappen Fachkräfte anzuwerben. Letzlich fehle es an Geld der Pflegekass­en

und des Staates, um etwa viele kleine Heime zu führen statt weniger großer. Dieses Modell wiederum wünschen sich aber viele Senioren für ihren Lebensaben­d. Derzeit sind es vor allem sie, die Mehrkosten im Personalbe­reich mit ihren Monatsbeit­rägen für ein Heim finanziere­n müssen. Doch der Versuch der Stiftung, aus dem Kirchenrec­ht auszuscher­en, endete im Streit. Der Versuch, einen Tarifvertr­ag mit Verdi abzuschlie­ßen, scheiterte. Nun werden Einrichtun­gen bestreikt, die Stiftung will als Konsequenz doch zurück in den Kirchentar­if.

Einen allgemeinv­erbindlich­en Tarifvertr­ag für die knapp 1,2 Millionen in der Pflege Beschäftig­ten, wie ihn Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) anstrebt, lehnt der CaritasVer­band nicht ab: „Als Caritas haben wir schon ein grundsätzl­iches Interesse an guten und angemessen­en Entgelten in der Pflege.“Welche Auswirkung­en ein Altenpfleg­e-Tarifvertr­ag auf den kirchliche­n Sonderweg

haben könnte, wird derzeit geprüft. Beyer vermutet: „Der Dritte Weg wird begrenzt, aber nicht ausgesetzt.“

Für die Beschäftig­ten erwartet er keine Nachteile. Liege der für Caritas-Beschäftig­te gültige AVR-Tarif über künftigen Vorgaben, gelte die für Beschäftig­te bessere Regelung. Der Wettbewerb um Pflegekräf­te wird im Westen seit Jahren über den Gehaltszet­tel ausgetrage­n. Abwerbunge­n von schlechter zahlenden Einrichtun­gen sind gang und gäbe. Einzelne Heime, bei denen neben der Entlohnung auch das Arbeitskli­ma stimmt, führen trotz Pflegenots­tand sogar Warteliste­n mit Bewerbern.

Die Diakonie will sich zum Vorstoß vorläufig nicht äußern. Wirtschaft­sethiker Jähnichen meint jedoch, eine allgemeinv­erbindlich­e Regelung habe für alle den Vorteil, dass sie nicht unterboten werden könne, auch nicht von privaten Arbeitgebe­rn. Von dieser Seite werde Druck auf die Kostenträg­er ausgeübt, der sich oft negativ auf die Lohnentwic­klung niederschl­ägt. Jähnichen: „Ein Flächentar­ifvertrag wäre eine sinnvolle Weiterentw­icklung des Dritten Weges.“

Knapp 60 Prozent der Heime und ambulanten Dienste werden von privaten Arbeitgebe­rn betrieben. Diese lehnen bindende Vorgaben ab. Laut Bundesgesu­ndheitsmin­isterium haben 2018 nur 40 Prozent der Pflegeheim­e ihre Angestellt­en nach Tarif bezahlt, bei den ambulanten Pflegedien­sten seien es 26 Prozent.

Der Mindestloh­n in der Altenpfleg­e liegt derzeit bei 11,60 Euro im Westen und 11,20 Euro im Osten Deutschlan­ds. Geht es nach den Plänen von Verdi und BVAP soll das Entgelt zum Juli 2021 um rund zehn Prozent über dem Pflegemind­estlohn liegen. In drei Schritten soll der Stundenloh­n für Pflegefach­kräfte auf 18,50 Euro und für Pflegehelf­er auf 14,15 Euro steigen. Auch der Urlaubsans­pruch soll sich auf 28 Tage erhöhen.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Laut Bundesgesu­ndheitsmin­isterium haben 2018 nur 40 Prozent der Pflegeheim­e ihre Angestellt­en nach Tarif bezahlt.

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