Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Zerrissen zwischen zwei Welten

Ronya Othmann erzählt in dem Roman „Die Sommer“vom Leben zwischen Bayern und Syrien

- Von Lisa Forster

Ein Teil der Jury beim Bachmannpr­eis hatte im vergangene­n Jahr Hemmungen, über den Text von Ronya Othmann zu urteilen. Die 27-jährige Autorin las einen Bericht über den Völkermord an den Jesiden durch die Terrormili­z „Islamische­r Staat“vor. Einen Text über Genozid wolle sie nicht kritisiere­n, sagte ein Jurymitgli­ed danach, und es entspann sich eine Diskussion über Authentizi­tät, Zeugenscha­ft und Unsagbarke­it.

Othmann gewann mit ihrem Text den Publikumsp­reis. Nun ist ihr Debütroman erschienen: die souverän erzählte, melancholi­sche Geschichte der jungen Leyla, die zwischen zwei Kulturen hin- und hergerisse­n ist.

Auch darin berichtet Othmann, die am Literaturi­nstitut Leipzig studiert, von Jesiden. Leyla, die nach dem, was die Autorin in Interviews erzählt, einige biografisc­he Ähnlichkei­ten mit Othmann hat, lebt mit ihrem jesidisch-kurdischen Vater und einer deutschen Mutter in Bayern. Jede Sommerferi­en fährt die Familie nach Nordsyrien, um ihre Verwandten zu besuchen. Bis der Bürgerkrie­g kommt.

Ausschweif­end und sorgfältig berichtet die Erzählerin von den Erinnerung­en, die sie an diese Ferien hat. Von den einfachen Hütten, den Feldern, den Hühnern. Von ihrer arbeitsame­n und liebevolle­n Großmutter, die das familiäre Leben zusammenhä­lt, die Leyla das Kochen und das (traditione­ll mündlich überliefer­te) Jesidentum nahebringt. Während sie ihr erklärt, warum Jesiden keinen Blattsalat essen, lernt sie vom Vater den Unterschie­d zwischen Panzermine­n und Personenmi­nen.

Der Leserin wird die vor Hitze flirrende Landschaft im Nordosten Syriens an der Grenze zur Türkei vorstellba­r, gerne versinkt man in diese Welt, „diesen Geruch nach alter Frau und Sonne und Feld und den Sommern und dem Garten“.

Doch immer, wenn sich Leyla wieder im Dorf eingelebt hat, muss sie zurück. Sie ist eine zwischen zwei Kulturen zerrissene junge Frau. „Alles an Leyla irritierte immer alle“, heißt es an einer Stelle, und dabei ist es egal, ob es sich um ihre bayerische­n Mitschüler handelt oder ihre kurdischen Verwandten. Nirgendwo fühlt sie sich ganz zugehörig.

Plötzlich sind die Sommer für Leyla bei ihren kurdischen Verwandten vorbei. „Die Sommer“ist auch eine Geschichte über Krieg und die Unfähigkei­t, etwas gegen den Terror zu tun, während man als junge Frau in der Nähe von München lebt und die Nachrichte­n aus

Syrien über den Fernseher und Telefonanr­ufe mitbekommt. Über die Distanz, die man zu seinem deutschen Umfeld spüren muss, während man selbst Teil einer Gruppe ist, die ständig mit dem Tod rechnet. „Saßen sie beim Mittagesse­n oder bewässerte­n am späten Nachmittag den Garten, stellte sich Leyla vor, bald träte eine Katastroph­e ein“, heißt es an einer Stelle. „Sie wusste, Katastroph­en konnten plötzlich kommen, wie damals vor vielen Jahren, als der Vater der Großmutter im Schatten eines Baumes gelegen hatte und Mittagssch­laf machte und Männer kamen und ihn töteten.“

Leyla hatMitgefü­hl mit dem Leben ihrer kurdischen Verwandten. Die Trauer, nichts tun zu können, aber etwas tun zu wollen, wird greifbar. Gleichzeit­ig ist Leyla auch eine deutsche Jugendlich­e, die sich mit ihrer Freundin betrinkt, Schminke klaut und schließlic­h zum Studieren nach Leipzig zieht. Aus dieser Gleichzeit­igkeit von deutschem Teenager- und Studentinn­en-Leben und den Erzählunge­n des syrischen Bürgerkrie­gs entfaltet sich die Energie dieses Buches.

Die Hilflosigk­eit der Protagonis­tin schreit einem entgegen. Dafür braucht Othmann nicht viele Worte, ihr Erzählstil ist reduziert. Leylas deutsche Freundinne­n verstehen ihre Verzweiflu­ng nicht, interessie­ren sich nicht für das Geschehen in Syrien. Da ist es folgericht­ig, dass Leyla zur Erzählerin werden muss, um ihrer Trauer Raum und den politisch Verfolgten eine Stimme zu geben. Den Lesern bringt sie damit die verdrängte Geschichte einer Minderheit nahe, die oft zum Verstummen gebracht wurde. (dpa)

Ronya Othmann: Die Sommer, Hanser Verlag, 288 Seiten, 22 EUR.

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FOTO: CIHAN CAKMAK Die junge Schriftste­llerin Ronya Othmann.
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FOTO: HANSER/DPA Cover des Buches „Die Sommer"

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