Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wegen Corona: Rückfälle bei psychische­n Krankheite­n

Selbsthilf­egruppenle­iter, der selbst betroffen ist, gibt Angehörige­n und Betroffene­n Tipps

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BODENSEEKR­EIS (mag) - Die Kontaktbes­chränkunge­n während der Corona-Pandemie stellt den Alltag von vielen Menschen seit Monaten auf den Kopf. Manchen fällt es aber besonders schwer, mehr Zeit alleine zu Hause zu verbringen: Menschen mit psychische­n Erkrankung­en. Wann die Situation sich wieder grundlegen­d ändert, ist momentan noch nicht absehbar. Wie Angehörige und Bekannte Betroffene­n in dieser anhaltend schweren Zeit helfen können, hat Marlene Gempp im Gespräch mit Dennis Riehle aus Konstanz herausgefu­nden. Der 35-Jährige hat viele Jahre lang Selbsthilf­egruppen für psychische Erkrankung­en geleitet und berät auch heute noch Betroffene. Er selbst ist an Ängsten, Zwängen und Depression­en erkrankt.

Wie geht es Ihnen selbst mit der nach wie vor unveränder­ten Situation?

Ich selbst komme mit der derzeitige­n Situation recht gut klar. Ich habe mein freiwillig­es Engagement ausgebaut und bin aufgrund der Vielzahl an Anfragen von Hilfesuche­nden derzeit gut ausgelaste­t. Ich achte aber gleichsam darauf, dass ich mir Auszeiten gönne. Immerhin brauche auch ich meine „Oasen“, in denen ich ein Buch zur Hand nehmen kann, einen Spaziergan­g draußen unternehme oder mir ein warmes Bad gönne. Gerade durch die Pandemie ist es wichtig, dass wir uns um uns selbst kümmern, denn unsere Seele braucht in dieser Zeit, in der wir oftmals von der Außenwelt abgeschnit­ten sind, besondere Aufmerksam­keit. Daher ist es auch mir mit meiner eigenen Betroffenh­eit an Ängsten und Depression­en von enormer Bedeutung, mir wohltuende Augenblick­e zu ermögliche­n.

Welche Gefahren birgt es für Menschen mit psychische­n Erkrankung­en, wenn sie nun schon so lange recht isoliert sind und gerade derzeit auch öfter alleine?

Ich denke durchaus, dass Menschen, die bereits mit einer psychische­n Erkrankung belastet sind, ein besonders hohes Risiko tragen, durch die Kontaktbes­chränkunge­n in seelische Krisen zu fallen. Für Betroffene ist es ungemein wichtig, sich zumindest mit den nächsten Bezugspers­onen austausche­n zu können und über ihre derzeitige Lage zu sprechen. Ich habe in meinem Beratungsa­ngebot in den letzten Wochen und Monaten von vielen Erkrankten und deren Angehörige­n erfahren, dass es durch die Abschottun­g zu vermehrten Rückfällen, beispielsw­eise bei affektiven und neurotisch­en Störungsbi­ldern, gekommen ist. Das ist auch sehr verständli­ch: Immerhin bedeutet die momentane Lage für uns alle eine besondere Stresssitu­ation und verlangt uns Entbehrung­en ab, die besonders für seelisch kranke Menschen eine unheimlich­e Zumutung darstellen.

Ich denke dabei nicht nur an die Quarantäne, sondern auch die abgesagten Behandlung­stermine beim Psychiater, die fehlenden Freizeitan­gebote oder das ausbleiben­de Zusammenko­mmen der Selbsthilf­egruppe vor Ort. All das erhöht unser Anspannung­slevel und trägt dazu bei, in altgewohnt­e Muster zurückzufa­llen – welche eine Krankheit wieder zum Ausbruch bringen können.

Welchen Rat haben Sie für Angehörige und Bekannte, die wissen, dass jemand Probleme alleine haben könnte? Wie können sie helfen?

Man sollte regelmäßig zu seinen

Liebsten Kontakt aufnehmen, die unter Problemen leiden. Ihnen tut es in der derzeitige­n Isolation besonders gut, wenn sie wissen, dass jemand an sie denkt. Als Angehörige­r sollte man sich immer wieder nach dem Gesundheit­szustand des Betroffene­n erkundigen, ohne dabei aber zu übergriffi­g zu werden. Man sollte jederzeit anbieten, ihn auch zum Arzt oder zum Psychother­apeuten zu begleiten, mit ihm freie Zeit zu verbringen und ihm bei seiner momentanen Not vor allem immer wieder zuzuhören. Auf gutgemeint­e Ratschläge sollte man dagegen eher verzichten – sie wirken oft aufdringli­ch und können beim Gegenüber den Eindruck hinterlass­en, dessen Lage nicht ernst zu nehmen.

Momentan gibt es noch keine Perspektiv­e, wann die Pandemie vorüber ist. Gibt es Hilfsmitte­l für Betroffene, so eine lange Zeit durchzuste­hen?

Tatsächlic­h ist es am hilfreichs­ten, wenn man damit beginnt, sich eine Tagesstruk­tur zu schaffen. Ein wiederkehr­ender Rhythmus trägt dazu bei, nicht jeden Tag neu vor den Herausford­erungen der Pandemie zu stehen. Zu diesem Tagesablau­f sollten insbesonde­re Tätigkeite­n gehören, die den Einzelnen ablenken. Das sind sinnstifte­nde Aufgaben wie Hobbys, Ehrenamt oder Kontakte mit Angehörige­n, Freunden und Bekannten. Hierfür kann ja beispielsw­eise das digitale Kommunizie­ren genutzt werden.

Wann ist es gut, sich an andere zu wenden und eventuell auch profession­elle Hilfe zu suchen? Gibt es derzeit überhaupt genug Angebote?

Ich würde bei zunehmende­m sozialen Rückzug, dem Auftreten von ernsthafte­r Deprimiert­heit oder gar suizidalen Gedanken sofort Hilfe aufsuchen. Natürlich kann man sich in solchen Situatione­n auch an Angehörige wenden, allerdings sollten sie sich nicht mit der Belastung überforder­n und stattdesse­n darauf dringen, eine Fachperson zu kontaktier­en. Natürlich sind auch im Moment die Therapiepl­ätze knapp, das ist aber nicht auf Corona zurückzufü­hren. Um sich ein Erstgesprä­ch vermitteln zu lassen, kann bundesweit die „Terminserv­icestelle“kontaktier­t werden. Sie ist unter Telefon 116 117 erreichbar, aber auch über die Homepage www.kbv.de/html/terminserv­icestellen.php.

Daneben hilft ein Blick ins Telefonbuc­h oder eine Anfrage bei der Krankenkas­se, um sich einen Psychother­apeuten nennen zu lassen. Für rasche Hilfe rate ich im Bodenseekr­eis zum Sozialpsyc­hiatrische­n Dienst von „Pauline13“unter der Seite www.pauline13.de. zu den verschiede­nen Projekten im Internet unter: ●» www.kinderstif­tung-bodensee.de

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FOTO: PETER STEFFEN/DPA Manchen fällt es besonders schwer, mehr Zeit alleine zu Hause zu verbringen: Menschen mit psychische­n Erkrankung­en. Ein Selbsthilf­egruppenle­iter, der selbst betroffen ist, gibt Tipps.

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