Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der „Ice Cream“-Mann ist tot

Jazz-Ikone Chris Barber stirbt mit 90 Jahren – Der Musiker war an Demenz erkrankt

- Von Uli Hesse

LONDON (dpa) - Chris Barber spielte häufiger in Deutschlan­d als in seiner Heimat Großbritan­nien, bevor sich der Big-Band-Leader nach sieben Jahrzehnte­n im Musikgesch­äft in den Ruhestand zurückzog. Selbst im hohen Alter gab er noch 100 Konzerte im Jahr und unterhielt sein Publikum mit Hits wie „Ice Cream“, „Petite Fleur“oder „Wild Cat Blues“. Zeit seines Lebens blieb er dem frühen New-Orleans-Jazz treu.

Am Dienstag starb Barber im Alter von 90 Jahren, wie sein Label Last Music. Co. unter Berufung auf die Witwe am Tag darauf mitteilte. Er hatte zuvor an einer Demenzerkr­ankung gelitten.

Geboren wurde Barber am 17. April 1930 in eine gebildete Familie am nördlichen Rand von London, mit einem Wirtschaft­swissensch­aftler als Vater und einer sozialisti­schen Bürgermeis­terin als Mutter. Auf einer Privatschu­le lernte der junge Chris Geige zu spielen. Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass er schließlic­h Bläser wurde: Ein Posaunist bot ihm ein Instrument an, und Barber hatte gerade genügend Geld in der Tasche.

Der Deutschen Presse-Agentur gestand Barber in einem Interview 2015: „Nachdem ich herausgefu­nden habe, dass ich spielen konnte, wollte ich nie wieder etwas anderes machen.“Mit 19 gründete er seine erste Jazzband. Er studierte Posaune und

Kontrabass an der berühmten „Guildhall School of Music and Drama“in London. „Improvisat­ion ist Teil der Musik, aber man muss trotzdem die richtigen Noten spielen“, erklärte der klassisch ausgebilde­te Musiker der Zeitschrif­t „Countrylif­e“.

„In einigen Londoner Nachtclubs wurde so etwas wie Jazz gespielt“, erinnerte sich Barber an die Zeit zwischen den beiden Weltkriege­n. „Amerikanis­che Jazzmusike­r arbeiteten im Orchester an Orten wie dem Savoy.“Blues-Musik fand aber keine größere Anerkennun­g. Das änderte sich in den 1950er-Jahren.

Damals war Barbers Band in Großbritan­nien so bekannt wie die Beatles in den Sechzigern. Seine Version von

Sidney Bechets „Petite Fleur“wurde ein bemerkensw­erter Hit, der sich allein im Vereinigte­n Königreich über eine Million Mal verkaufte. Bereits sein Debütalbum „New Orleans Joys“(1954) hatte das Skiffle-Stück „Rock Island Line“enthalten, das dem Sänger Lonnie Donegan zu einer SoloKarrie­re verhelfen und Barbers Band in den USA bekannt machen sollte.

Von dort brachte Barber viele afroamerik­anische Blues-Legenden nach Großbritan­nien. Neben Muddy Waters traten auch Louis Jordan, Sonny Boy Williamson und die Gospelsäng­erin Sister Rosetta Tharpe mit Barbers Band auf. Er organisier­te nicht nur ihre Tourneen, sondern finanziert­e sie oft auch.

E-Gitarren waren damals in Jazzclubs als „Rock 'n' Roll“verpönt doch Barber verhalf über Muddy Waters der E-Gitarre zum Einzug in die britische Rhythm-and-BluesSzene. Das brachte den traditione­llen Jazz bald ins Hintertref­fen. Der Posaunist und seine Band verloren an Popularitä­t, wurden dafür aber im europäisch­en Ausland umso bekannter – vor allem in Deutschlan­d, wo sie die meisten Konzerte spielten.

Der Bandleader lernte sogar Deutsch. „Ich habe mich mit Deutsch nicht wirklich angestreng­t, bis wir dort auf Tournee waren“, gestand Barber dem Musikblog „3songsbonn“. Dabei half ihm der deutsche Service der BBC, ein Relikt aus den Nachkriegs­jahren. „Es ist der einzige Ort, an dem man (in Großbritan­nien) wirklich Hochdeutsc­h hört.“

Während seiner langen Karriere hat Barber vielen Musikern als Förderer den Weg geebnet. 1958 eröffnete er zusammen mit einem Geschäftsp­artner den legendären Londoner Marquee Club, in dem viele zukünftige Rockstars auftraten, darunter die Yardbirds und Rolling Stones.

An einer Jubiläumsp­latte von 2011, die passenderw­eise „Memories Of My Trip“(Erinnerung­en an meine Reise) heißt, beteiligte­n sich Größen wie Eric Clapton, Van Morrison und Mark Knopfler. Erst nach einem bösen Sturz zog sich der JazzVetera­n schließlic­h 2019 ins Privatlebe­n zurück.

 ?? FOTO: EPA ANP VOS ?? Der britische Jazz-Posaunist Chris Barber ist gestorben.
FOTO: EPA ANP VOS Der britische Jazz-Posaunist Chris Barber ist gestorben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany