Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Das Venusbrüstchen soll zurück in die Gärten
Saatgutverleih für historische Gemüsesorten startet – Knapp 150 Zuhörer nehmen am Vortrag von Patrick Kaiser zum Auftakt teil
TETTNANG - In manchem Tettnanger Hobbygarten werden in diesem Frühjahr und Sommer wohl nicht die üblichen Gemüsesorten wachsen, die es auch im Supermarkt zu kaufen gibt, sondern weitaus ausgefallenere Gewächse. Zum Beispiel die Tomate „Venusbrüstchen“, der Kopfsalat „Gelber Kaiser“oder die Stangenbohne „Panda“.
Schuld daran ist die Aktion „Spektakel in Topf und Beet“, bei der Hobbygärtner Saatgut von historischen Gemüsesorten ausleihen können – von ihrer Ernte sollen die Teilnehmer etwas Saatgut abnehmen und im Herbst wieder zurückbringen, damit es im kommenden Jahr wieder ausgegeben werden kann, so der Grundgedanke. Am Montagabend fand zum
Auftakt ein Onlinevortrag mit dem Titel „Vielfalt säen – Zukunft ernten“von Saatgutexperte Patrick Kaiser statt.
Das Interesse war enorm: Fast 150 Zuhörer lauschten über Zoom den Ausführungen des gebürtigen Tettnangers, der als Saatgutretter für das sogenannte Genbänkle tätig ist und sich für den Erhalt alter Sorten einsetzt. In seinem Vortrag ging er nicht nur auf die Bedeutung der Kulturpflanzenvielfalt sowie die Erhaltung alter Sorten ein, sondern stellte auch das Projekt nochmals vor, das er gemeinsam mit der Anlaufstelle für
Bürgerengagenemt und der Stadtbücherei auf die Beine gestellt hat.
Viele alte Gemüsesorten, die unsere Vorfahren noch angebaut hätten, seien inzwischen verschollen, erklärte Patrick Kaiser. Einer Studie zufolge seien von 7000 untersuchten Gemüsesorten, die es zwischen 1836 und 1956 noch gegeben habe, mehr als 5200 Sorten mittlerweile verschollen. Stattdessen finde durch die vielen Monokulturen bei Nutzpflanzen ein globaler Prozess der Uniformierung statt. Nur ein Bruchteil der global bekannten essbaren Pflanzen werde auch tatsächlich angebaut. Die Pflanze, die weltweit am meisten angebaut werde, sei Zuckerrohr, gefolgt von Mais und Weizen.
Und auch beim Saatgut gebe es eine bedenkliche Entwicklung: „Drei große Konzerne verkaufen heutzutage 64 Prozent des globalen Saatguts“, sagte Kaiser. Doch manchmal könnten historische Gemüsesorten wieder aufgespürt und so erhalten werden. „Einer der berühmtesten Sortenfunde ist die Alblinse“, sagte Kaiser. Das Saatgut habe lange in einer Genbank in St. Petersburg in Russland geschlummert, bis es irgendwann wieder entdeckt wurde. Heute bauten auf der Schwäbischen Alb rund 80 Landwirte die Alblinse wieder an.
Auch Patrick Kaiser hat schon einige verschollen geglaubte Sorten wiedergefunden – meist durch viele Telefonate mit Familien, die das Saatgut über Generationen übernommen und weitergegeben hätten, wie er erzählte. So gibt es heute beispielsweise wieder die Hagnauer Rote Bohne, die bunte Nürtinger Hockerbohne, die Söflinger Zwiebel oder den Ulmer
Spargel. Saatgutmärkte, auf denen historisches Saatgut ausgetauscht wird, erfreuten sich immer größerer Beliebtheit, meinte Kaiser. Beim „Genbänkle“gebe es außerden einen Online-Marktplatz, auf Raritäten aus der Region erhältlich seien.
Während des Vortrags waren immer wieder auch die Zuhörer gefragt: Bei interaktiven Umfragen galt es Fragen zu beantworten, die zeigen sollten, wie viel Vorwissen die Teilnehmer schon mitbrachten. Doch nicht nur fortgeschrittene Kleingärtner könnten sich als Sortenretter versuchen, betonte Kaiser. Auch im Balkonkasten oder in Töpfen auf der Terasse ließen sich alte Schätze anbauen.
Dabei bieten die sogar eine Reihe an Vorteilen gegenüber konventionellen Sorten: Neben einer größeren Vielfalt beim Geschmack sei auch das Erntefenster oft deutlich größer. „Der kommerziellen Anbau ist darauf ausgelegt, dass alles möglichst am gleichen Tag erntereif ist. Das will man im Kleingarten ja nicht“, so Kaiser. Auch seien alte Sorten fast immer samenfest – sprich, man kann wieder eigenes Saatgut daraus gewinnen.
Samentütchen von 25 historischen Gemüsesorten und Blumenarten sind in der Stadtbücherei erhältlich. Pro Tüte wird eine Schutzgebühr von einem Euro verlangt. Die Sorten müssen vorbestellt werden, die Abholung erfolgt nach Terminvergabe. Bestellungen unter Telefon 07542 / 51 02 80 oder per E-Mail an info@stadtbuechereitettnang.de