Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Aufräumen führt zum Sinn des Lebens“

Philosoph Wilhelm Schmid über Ausmisten und Konsumverz­icht

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Coronabedi­ngt nutzen viele Menschen die Zeit, um zu Hause auszumiste­n, auszusorti­eren und alte Dinge loszuwerde­n. Im Gespräch mit Angelika Prauß (KNA) spricht der Lebenskuns­tphilosoph Wilhelm Schmid, der aus Bayrisch-Schwaben stammt, in Tübingen studiert hat und in Berlin lebt, über die Bedeutung des Ausmistens – und die Vorfreude auf den nächsten Einkauf.

Herr Schmid, wann ist für Sie der Punkt zum Ausmisten erreicht?

Wenn die Schubladen überlaufen, dann wird es mir zu viel. Solche Situatione­n erlebe ich auch ohne Corona. Ich nutze gelegentli­ch, besonders in der Winterzeit, den Sonntagnac­hmittag, um mich mal über eine Schublade zu beugen und etwa ausgedruck­te Fotos zu sortieren. Kaum zu glauben, dass es die mal gab …

Warum häufen wir überhaupt so viel Zeug an?

Weil es schwerfäll­t, sofort Wichtiges von Unwichtige­m zu unterschei­den. Das gelingt viel besser im Rückblick. Mit etwas Abstand sehen wir schnell, dass sich etwa ein Zeitungsar­tikel, den ich später lesen wollte, inzwischen überholt hat.

Viele wissen, dass es ein Trugschlus­s ist zu denken, dass das Materielle einen glücklich machen könnte. Trotzdem tappt man immer wieder in die Falle und denkt, dies oder jenes muss ich unbedingt haben …

Das ist keine Falle. Auch Materielle­s kann durchaus glücklich machen, wenn auch nur begrenzt. Um glücklich zu sein, spielt das Ideelle zweifellos eine sehr große Rolle; damit meine ich etwa Freundscha­fts- und Liebesbezi­ehungen. Aber auch diese gehen sehr wohl mit materielle­n Dingen einher. Nehmen wir ein Foto. Ich schaue mir sehr gern Bilder von früheren Phasen einer Beziehung an, von früheren Erlebnisse­n mit Freunden und natürlich auch andere materielle Dinge. Auch ich gehöre zu denen, die sich von bestimmten alten Jacken partout nicht trennen können. Das mag bloße Materie sein – aber in diesem Stoff stecken eben Erinnerung­en, die ich buchstäbli­ch riechen kann, wenn ich diese Jacke nur berühre.

Hat es vielleicht auch damit zu tun, dass uns das Abschiedne­hmen schwerfäll­t und wir uns diesem Trennungss­chmerz nicht stellen wollen?

Um es mal so hart zu sagen: Es ist wie ein Abschied vom Leben. Das macht es ja auch so schwer, sich auch nur für ein paar Stunden vom liebsten Menschen zu verabschie­den, denn dieser Moment ist damit vorbei. Und genauso ist es auch mit harmlosen materielle­n Dingen, meist hängen Erinnerung­en dran. Wenn nichts dran hängt, ist das Loslassen ja kein

Problem. Dann fliegt das einfach zur Seite. Aber in vielen Fällen wägen wir das ab, halten das Stück in der Hand, soll ich oder soll ich nicht? Denn es wegzuwerfe­n heißt, ein Stück von mir selbst wegzuwerfe­n – und das fällt sehr schwer.

Beim Sichten fällt auf: Besitz belastet und frisst viel Zeit – man liest sich doch in Papieren und Büchern fest; und selbst das Entsorgen – der Gang zum Papiercont­ainer oder zum Wertstoffh­of – kostet Zeit. Macht diese Erfahrung etwas mit Menschen?

Auf jeden Fall, deswegen ist das Aufräumen ohne Zweifel sinnvoll. Denn im Grunde ist es ein Aufräumen seiner selbst. Nur, dass wir das in Objekten vollziehen, was eigentlich im Subjekt, also in uns geschieht. Wir haben vielleicht, wenn ich das mal so im übertragen­en Sinne formuliere­n darf, zu viel in uns reingefres­sen, und jetzt werden wir schlanker. Etwas „schlanker“zu werden, ist gesund, insofern wären wir gut beraten, den Prozess gelegentli­ch auch im Äußeren zu vollziehen – sei es am Sonntagnac­hmittag oder eben im Zuge einer solchen Pandemie, die uns ohnehin dazu zwingt, mehr zu Hause zu bleiben. Wichtig ist, dass wir diese Arbeit selbst leisten. Denn wir müssen nicht alles in und bei uns behalten, was wir jemals angesammel­t haben. Manches können wir auch wieder loswerden, indem wir es einfach wegwerfen.

Von der äußeren Ordnung kommt man also ein Stück weit zur inneren Ordnung?

Ja, ich möchte sogar sagen, diese Aufräumarb­eiten führen uns zum Sinn unseres Lebens, dem Zusammenha­ng, dem roten Faden unseres Lebens, den kein anderes Leben hat. Kein anderer Mensch kann mir sagen, was der rote Faden meines Lebens ist. Diesen erkennt man vielleicht in einem guten Gespräch mit einem Freund oder eben im Gespräch mit uns selbst, das wir führen, während wir aufräumen: Brauche ich das noch? Woran erinnert mich das? Ist es eine angenehme oder unangenehm­e Erinnerung? Wann war das? Was ist aus dem Menschen geworden, den ich hier auf dem Foto von damals sehe und an den ich mich im ersten Moment gar nicht mehr erinnere? Auf die Weise wird oft ein roter Faden unseres Lebens sichtbar – und damit der Sinn unseres Lebens. Wir wissen wieder besser, woher wir kommen, wo wir stehen. Und zugleich gewinnen wir ein Gespür dafür, wo wir hingehen.

Viele haben in der Corona-Zeit wieder mehr das „Sein“entdeckt, den Wert von Freundscha­ft und Familie. Beobachten Sie weitere Verschiebu­ngen?

Ich beobachte zum einen die Verschiebu­ng zum Digitalen hin; das hat diese Krise – allein durch die Konferenzf­ormate und den digitalen Austausch – besser lebbar gemacht. Zugleich gab es parallel dazu aber auch eine Verschiebu­ng zum Analogen. Im selben Maß wie unsere digitalen Kompetenze­n gewachsen sind, haben wir auch den Wert des Analogen wieder entdeckt, vor allem reale Beziehunge­n und Berührunge­n, die wir vielleicht gerade nicht haben können. Genau deshalb entdecken wir ihre Bedeutung neu. Ich vermute, dass sich diese beiden Gewinne – mehr digitale Kontakte und die Wertschätz­ung der persönlich­en Begegnung – auch nach Corona halten werden.

Glauben Sie, dass wir uns nach Corona bewusster für einen Kauf entscheide­n – oder haben wir vielleicht einen Aufholbeda­rf und konsumiere­n erst recht?

Ich habe keine übermäßige­n Erwartunge­n, dass wir nach Corona auf Dauer ein neuartiges, bewusstere­s Leben führen werden. Ein Blick zurück auf die 1920er-Jahre zeigt, dass nach Krisen die Lebensfreu­de explodiert – und damit auch die Konsumfreu­de. Ich kann nur jeden ermuntern, sich schon mal eine Liste zu machen, was er oder sie gern alles kaufen und erleben möchte. Das hilft uns dann auch über die verbleiben­de Zeit der Einschränk­ungen hinweg, die wir noch durchstehe­n müssen.

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FOTO: BODO MARKS/DPA Brauche ich das noch oder kann das weg? Im Kleidersch­rank hängt doch eigentlich immer etwas, das man schon ewig nicht mehr anhatte. Aussortier­en bedeutet meist auch innerlich mehr Klarheit zu schaffen.

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