Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Normalos interessie­ren mich beim Schreiben nicht“

„Die wunderbare Kälte“von Elisabeth Rettelbach aus Lindau ist der „Bestseller von morgen“

- Von Susi Donner

LINDAU – Elisabeth Rettelbach kommt mit dem Fahrrad zum Termin. Schon von Weitem ist klar – das muss sie sein. Es ist windig und kalt, deshalb ist ihre Kleidung mehr als angemessen, aber halt ein absoluter Hingucker: knallrote Mütze, kniehohe knallrote Lederstief­el, die Jacke ein wildes schwarzwei­ßes Zickzackmu­ster mit roten Knöpfen. Schmale, zierliche Figur. Unter der Mütze schauen blonde Haarsträhn­en und freundlich­e, fröhlich blitzende Augen hervor. Jetzt gilt es, die Kurve zu bekommen: Das ist Elisabeth – nicht diese irritieren­de, unheimlich­e Kai aus ihrem Debütroman „Die wunderbare Kälte.“

Elisabeth Rettelbach wurde in Garmisch-Partenkirc­hen geboren. Als Kind kämpfte sie sich auf dem Weg zum Schulbus oft durch hüfthohen Schnee. Die heute 45-Jährige ist Diplomüber­setzerin, lebte mit ihrem US-amerikanis­chen Ehemann viele Jahre lang in Boston und gab dort an der Uni Deutschunt­erricht. Vor sieben Jahren zog das Ehepaar mit seinen Kindern nach Deutschlan­d zurück. „Auf Jobsuche – ich arbeite in Vollzeit bei einem großen Schweizer Sprachdien­stleister – sind wir im wunderschö­nen Lindau gelandet.“

Die Schriftste­llerin wuchs umgeben von Büchern und Geschichte­n auf. Ihre Mutter, eine extreme Leseratte, las ihr viel vor. Die Wände in ihrem Zuhause waren mit Bücherrega­len tapeziert. „Ich schreibe Geschichte­n, seit ich einen Stift halten kann. Als ich noch nicht schreiben konnte, habe ich Bilder gemalt und meiner Mutter den Text dazu diktiert“, erinnert sie sich. In der Grundschul­zeit füllte sie ihre Schulhefte mit ihren Geschichte­n. „Natürlich Plagiate“, verrät sie und lacht verschmitz­t. Ganze Serien schrieb sie über ihre persönlich­en „Fünf Freunde“und versuchte erfolglos, ihre Freundinne­n fürs Schreiben zu begeistern. Lange schrieb sie nur für sich. Das machte sie glücklich und zufrieden. „Ich bin eher introverti­ert, nicht schüchtern, aber ich brauche das Rampenlich­t nicht“, erklärt sie. In ihrer Schublade schlummern viele Bücher – und sie werde sie auch nicht aufwecken. Allerdings veröffentl­ichte Elisabeth Rettelbach einige skurrile Kurzgeschi­chten und erhielt dafür viel Beachtung. „Mir fiel auf, dass es Spaß macht, Wettbewerb­e

zu gewinnen, Feedback und Validierun­g von objektiven Lesern zu bekommen.“

Zufällig las sie vom noch jungen Kirschbuch Verlag, der einen Verlagswet­tbewerb ausgelobt hatte, mit dem Titel „Bestseller von morgen“. Sie fand die Ausschreib­ung lustig. Denn der Verlag hat mit „Lisa“eine neue Software zum Prüfen von Manuskript­en entwickelt. Künstliche

Intelligen­z liest die Romane, mistet aus und trennt die Spreu vom Weizen. Das interessie­rte die Lindauerin. „Aus purer Neugierde wollte ich wissen, was Künstliche Intelligen­z zu meiner bizarren Erzählung sagen würde. Ich war so baff, als die Verlegerin anrief, und meinte ‚oh mein Gott, was für eine Wahnsinns Geschichte.‘ Die Maschine hat meinen Roman für gut befunden. Das hat mich überwältig­t.“Die Verlegerin lud sie zur Buchmesse nach Frankfurt ein, sie gewann den Preis „Bestseller von morgen“, und ihr Roman „Die wunderbare Kälte“wurde gedruckt, verlegt, beworben. Eigentlich hatte der Kirschbuch Verlag auch eine Lesereise mit Elisabeth Rettelbach geplant. Wegen Corona wurde daraus nichts.

Doch nun zu Kai. Ihre Geschichte spielt im schneereic­hen, kalten Winter. Die exzentrisc­he Protagonis­tin ist Maskenbild­nerin am Stadttheat­er und liebt auch privat die Verkleidun­g. In ihrem Kleidersch­rank gibt es Mäntel und Perücken in allen Farben, Brillen in jeglicher Form. Kai hat ein fragwürdig­es Hobby: Sie stalkt fremde Menschen, was am besten im Winter funktionie­rt, weil da alle anderen auch vermummt sind. Kai muss hübsch und aufregend sein, denn sie wird begehrt. Sie zu mögen, ist für die Leserin dennoch nicht leicht, obwohl sie auf groteske Weise beindruckt.

Ihre Handlungen sind moralisch zweifelhaf­t, die ganze Person ist finster. „Es war meine Absicht eine psychopath­ische, unsympathi­sche Hauptfigur zu schaffen. Umso fantastisc­her ist es, dass sie den Leser so fesselt“, sagt die Autorin. Sie werde oft gefragt, ob das Buch autobiogra­fische Züge habe. „Nein hat es nicht. Es spiegelt nur mein psychologi­sches Interesse an Menschen, die typische Antihelden sind. Normalos interessie­ren mich beim Schreiben nicht. Ich mag es, in die Köpfe von extremen, abnormen Persönlich­keiten zu schauen. Ich selbst bin weder eine axtschwing­ende Irre, noch versuche ich, Leuten absichtlic­h wehzutun. Ich halte mich für eine warmherzig­e Frau, habe eine stabile Persönlich­keit, bin immer fröhlich. Ich habe eine Familie, die mich mag und die ich mag.“Im Gegensatz zu Kai. Kai sei reine Fiktion – „aber natürlich habe ich Menschen getroffen, die ähnliche Charakterz­üge wie Kai haben, die keine Empathie fühlen, selbstzers­törerisch sind.“Für ihre bitterböse Geschichte hat Elisabeth Rettelbach eine besonders bildhafte und poetische Sprache gewählt, die Kais rauschhaft­e und gestörte Wahrnehmun­g, der etwas Gleichgült­iges, Boshaftes zugrunde liegt untermalt. Kai beobachtet Menschen, steckt ihnen heimlich Zettel zu, und greift so in deren Leben ein. Dann begegnen ihr Tama, blaue Winterstie­fel und Milo, die sie mehr fasziniere­n als alles andere. Ein abgründige­s Spiel beginnt und entwickelt sich zu einem Albtraum.

Die Idee zu Kai kam Elisabeth Rettelbach, als sie Teaching-Assistenti­n an der Uni in Stockholm war. „Da wird es schnell dunkel im Winter. Abends, von meiner kleinen Wohnung aus, habe ich in sämtliche Nachbarwoh­nungen blicken müssen – das war eine Situation wie in dem Krimi ‚Das Fenster zum Hof‘ von Alfred Hitchcock. Ich war Beobachter­in wie Kai – allerdings ohne es zu wollen. Damals hat sich die dunkle Kai wohl in meinen Gedanken eingeniste­t.“Elisabeth Rettelbach steigt wieder auf ihr Fahrrad. Schaut sanft unter ihrer roten Mütze hervor, winkt lachend, und es ist schwer vorstellba­r, dass sie hinter dieser zarten Stirn so dunkelgrau­e, bizarre Persönlich­keiten und so verrückte Handlungen erfindet.

„Die wunderbare Kälte“, erschienen im Kirschbuch Verlag, Taschenbuc­h mit 405 Seiten, zwölf Euro, ISBN: 978-3948736125. Auch als E-Book verfügbar.

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FOTO: SUSI DONNER Elisabeth trägt rote Stiefel, ihre Protagonis­tin Kai stiehlt das blaue Pendant dazu. Die Lindauer Schriftste­llerin Elisabeth Rettelbach ist für ihren Debütroman „Die wunderbare Kälte“ausgezeich­net worden.

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