Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Vom Juden, der einfach nicht vergessen will

Antisemiti­smus zeigt sich nicht erst in Handgreifl­ichkeiten, sondern ist in vielen Köpfen latent vorhanden

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Deutschlan­d wiederum gelten 15 Prozent der Bevölkerun­g als überzeugt antisemiti­sch, weitere 15 Prozent als latent antisemiti­sch eingestell­t. Womit wir hierzuland­e bei 30 Prozent der Bevölkerun­g sind, die zumindest dem oben erwähnten alten Politisier­er mehr oder weniger Recht geben würden.

Und die übrigen 70 Prozent? Auch wenn sie es versuchen sollten, die Antisemite­n zu bekehren, werden sie wenig Erfolg haben. Um die Bibel zu bemühen: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Antisemit seine Vorurteile aufgibt. Das wusste auch Theodor Herzl. „Ich will in dieser Schrift keine Verteidigu­ng der Juden vornehmen. Sie wäre nutzlos. Alles Vernünftig­e und sogar alles Sentimenta­le ist über diesen Gegenstand schon gesagt worden“, schreibt er im „Judenstaat“. Viel geholfen hat auch nicht die schon mehr als 200 Jahre alte Judenemanz­ipation, ausgehend von Preußen. Sie war von oben verordnet und wurde selbst von vielen damals Herrschend­en nicht mit voller Überzeugun­g vorangebra­cht. Wie sollte da das Volk, verseucht mit religiösen und sozialen Vorurteile­n, überzeugt werden?

Umso wichtiger ist zu verhindern, dass junge Leute die Vorurteile oder gar den Hass der alten Generation­en übernehmen. Aber wenn Jugendlich­e heute das ehemalige Konzentrat­ionslager Dachau besuchen, bekommen sie eine weichgespü­lte Version der Gewalt vorgesetzt. „Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Fantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustell­en, was dort (damals) gespielt wurde“, urteilt eine KZ-Überlebend­e. Auch die Fotos von den Leichenber­gen, die die amerikanis­chen Befreier dort 1945 zu sehen bekamen, sind verschwund­en, mit dem Argument, sie könnten Kindern unter den Besuchern Schaden zufügen. Welchen Schaden sie nehmen können, wenn sie nicht mit den Folgen des mörderisch­en Antisemiti­smus konfrontie­rt werden, bleibt unerwähnt.

Gerade junge Menschen müssen wissen und erleben, wohin Fremdenfei­ndlichkeit und Antisemiti­smus führen. Und sie müssen lernen, dass sie nicht nur dafür verantwort­lich sind, was geschieht, sondern auch dafür, was sie geschehen lassen, so der einstige Bundespräs­ident Roman Herzog. Niemand kann sagen: „Was geht mich das an, ich bin doch kein Jude.“Denn, so der französisc­he Philosoph Jean Paul Sartre: „Jude ist jeder, den die Welt als solchen ansieht, auf die Religion kommt es dabei nicht an.“

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