Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Wir können das Virus nicht wegimpfen“
Landrat Lothar Wölfle zieht Bilanz nach einem Jahr Pandemiebekämpfung im Kreis
BODENSEEKREIS - Die Kreisverwaltung steht mit dem Gesundheitsamt seit Beginn im Zentrum der Pandemiebekämpfung. Landrat Lothar Wölfle zieht im Gespräch mit Alexander Tutschner Bilanz nach einem Jahr Corona im Bodenseekreis und wagt einen Ausblick.
Das Coronavirus hat am 3. März 2020 den Bodenseekreis erreicht. Wie einschneidend war der Tag für Sie rückblickend?
Wir haben schon seit Mitte Februar 2020 Lagemeldungen im Krisenstab diskutiert. Es war absehbar, dass es uns auch treffen wird. Für die Verwaltung war das Einschneidende die Umstellung der Arbeit auf die Stabsstruktur, die bis heute besteht. Unser Leben hat sich verändert und es verändert sich weiterhin täglich. 70 bis 80 Prozent meiner Arbeit waren und sind von Corona bestimmt. Vom Aufbau des ersten Testzentrums, den Fieberambulanzen, dem Testen der Erntehelfer bis zur administrativen Unterstützung der Ortspolizeibehörden und natürlich dem Kontaktpersonenmanagement – wir sind stark gefordert. Und wir lernen jeden Tag dazu. Von der Übertragung des Virus, über die Wirksamkeit von Masken, die Einschränkung des öffentlichen Lebens. Jeden Tag müssen Entscheidungen getroffen werden. Und wir müssen so ehrlich sein, dass wir von der Politik derzeit keine Langzeitperspektive erwarten können, weil niemand weiß, was in einem halben Jahr sein wird.
Wurde die Pandemie aus Ihrer Sicht bislang gut bewältigt?
Im Nachhinein ist man ja immer schlauer. Aber wenn ich auf andere Länder schaue, wie etwa Portugal oder Tschechien, sind wir bislang nicht so schlecht durchgekommen. Was den Bodenseekreis betrifft, haben wir seit vielen Monaten nach der Stadt Karlsruhe die niedrigsten Infektionszahlen. Über jede einzelne Maßnahme kann man diskutieren: Müssen die Frisöre schließen? Die Einzelhandelsgeschäfte? Sollen die Schulen wieder öffnen? Die Überschrift lautet aber definitiv: Kontakte vermeiden! Das Virus wird über Kontakte verbreitet, deshalb müssen wir sie vermeiden, auch durch Vorgaben der öffentlichen Hand.
Im Sommer sind die Zahlen zurückgegangen, es gab keine Infektionen mehr im Bodenseekreis. Hat man diese Zeit als Vorbereitung auf die zweite Welle verschlafen?
Es wurden eine Zeit lang durch die Testungen keine neuen Fälle bekannt, das ist richtig. Das heißt aber nicht, dass das Virus plötzlich weg war und sich niemand mehr infiziert hat. Mich hat die zweite Welle deshalb auch nicht überrascht. Ich glaube, dass man sich sehr wohl vorbereitet hat, gerade in den Schulen und Pflegeheimen. Zwar ist das Lernprogramm Moodle am ersten Tag nach den Ferien in die Knie gegangen, aber mittlerweile läuft es, diese Rückmeldung habe ich von Schulleitern bekommen. Wir haben in zwölf Monaten Corona viel gelernt und viel auf die Reihe bekommen. Von 1300 Mitarbeitern des Landratsamts können nun etwa 800 auch von zu Hause aus arbeiten. Im Gesundheitsamt haben wir erst ein Kontaktpersonenmanagement mit Dutzenden Mitarbeitenden aufgebaut und den Prozess parallel dazu komplett digitalisiert. Und das sind nur einige Beispiele. Das hätten wir uns vor einem Jahr nicht träumen lassen.
Ärgern Sie sich auch über Fehler der Politik?
Mich ärgert nicht so sehr der eine oder andere Fehler in der Politik, denn es bringt nichts immer mit dem Finger auf andere zu zeigen. Mich ärgert viel mehr die Unvernunft mancher Menschen. Letztlich büßen es dann die, die vernünftig sind. Ich denke zum Beispiel an eine Gruppe junger Menschen, die ich auf meinen Nachhauseweg unlängst mit Musik und dicht gedrängt feiernd beobachten musste. Leider erleben wir das gerade überall.
Glauben Sie nicht, dass die Menschen bald kein Verständnis mehr haben für die Einschränkungen?
Die Zustimmung zu den strengen Regeln bröckelt. Es geht uns ja allen so, dass wir gerne mal wieder in den
Urlaub fahren oder ins Restaurant gehen wollen. Es klafft aber eine Lücke zwischen dem, was man gerne hätte, und dem, was vernünftig ist. Und momentan hilft halt nur Vernunft.
Mittlerweile gibt es 138 Todesopfer im Bodenseekreis zu beklagen im Zuge der Corona-Pandemie, vor allem aus der Gruppe der älteren Menschen. Warum haben wir es nicht geschafft, diese Gruppe besser zu schützen?
Das belastet mich am allermeisten. In der Zeit vor Weihnachten sind die Zahlen der Todesopfer ja sprunghaft angestiegen. Das Virus hatte eine Reihe von Pflegeheimen erfasst. In der zweiten Welle war Corona in der Bevölkerung viel stärker verbreitet und ist damit auch in die Alten- und Pflegeheime getragen worden. Im Rahmen des zweiten Lockdowns wurde ja bewusst kein komplettes Besuchsverbot ausgesprochen. Es wurde den älteren Menschen ermöglicht, soziale Kontakte zu haben, was für sie ebenfalls sehr wichtig ist. Öffnungen sind aber immer auch mit einem Anstieg der Infektionen verbunden. In diesem Dilemma stecken wir jeden Tag.
Die Hoffnung ist der Impfstoff, warum sorgt das Thema dennoch für so viel Frustration bei der Bevölkerung?
Zunächst ist es doch positiv, dass wir nach nur einem Jahr bereits vier zugelassene Impfstoffe haben. Es wurde jedoch vor Weihnachten eine zu große Erwartungshaltung geweckt. Denn klar war von Anfang an, dass wir nicht sofort genügend Impfdosen haben werden. Momentan können wir etwa 2400 Impftermine pro Woche im Bodenseekreis anbieten. Wir könnten aber im Kreisimpfzentrum 750 Personen am Tag impfen. Alleine in der Gruppe mit höchster Priorität haben wir im Landkreis etwa 20 000 Impfberechtigte. Das passt nicht zusammen. Das wird sich aber von Woche zu Woche bessern. Dass man sich für die Vergabe der Termine über die Hotline 116 117 der Kassenärztlichen Vereinigung entschieden hat, darüber kann man sicher auch streiten. Vielleicht hätte man besser auf ein System gesetzt, das mit so einem Andrang umgehen kann. Auch wir als ImpfzentrumsBetreiber haben auf das System keinen Zugriff. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie die mittlerweile eingeführte Warteliste abgearbeitet wird.
Wie geht es weiter, werden wir im Sommer wieder im Biergarten sitzen?
Machen wir uns nichts vor, das Virus ist in der Welt und es wird in der Welt bleiben. Selbst wenn die Infektionszahlen runtergehen und alle, die das wollen, geimpft sind, werden wir weiter mit Corona leben müssen. Wir können das Virus vermutlich nicht wegimpfen. Wir wissen immer noch viel zu wenig über das Virus und über die damit verbundene Krankheit. Zum Beispiel wie lange die Wirkung des Impfstoffs anhält. Oder wie sich die verschiedenen Mutationen auswirken. Es müssen dringend Behandlungsmethoden entwickelt werden. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Situation verbessert, ob das schon diesen Sommer sein wird, weiß ich nicht.
Was wird sich durch Corona dauerhaft verändern?
Ich habe einen Landratskollegen, der seit Jahren Türklinken nur mit einem Taschentuch anfasst. In China sind Alltagsmasken schon lange normal. Es wird so bleiben, dass wir stärker auf Hygiene achten müssen, was ja nicht völlig falsch ist. Es werden also auch positive Dinge bleiben. Corona hat gezeigt, dass man nicht wegen jedem Termin nach Stuttgart fahren muss. In der Kreisverwaltung sehen wir, dass man die Kundenströme gut durch Terminvereinbarungen steuern kann, und zwar zum Vorteil aller.
Können Sie schon abschätzen, wie sich die Corona-Pandemie auf die Wirtschaft im Bodenseekreis auswirken wird?
Die Schulden, die der Staat jetzt mit den Hilfspaketen gemacht hat, müssen ja wieder zurückbezahlt werden. Das wird sich bemerkbar machen, wenn die Wirtschaft wieder normal läuft. Ich hoffe, dass Handel und Gastronomie im Zuge der Impfkampagne bald wieder öffnen können. Insgesamt haben wir das erste Corona-Jahr relativ gut überstanden. Im Tourismus waren die Einbrüche nicht so hoch wie befürchtet. Es wird auf jeden Fall langfristige Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt geben, das merken wir jetzt schon im Jobcenter. Wir sind im Landkreis auch von internationalen Verflechtungen abhängig, wir können die Folgen von Corona also noch gar nicht abschätzen.
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