Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Gärtnerglü­ck im gemieteten Grün

Die Warteliste für kleine Saisonparz­ellen ist vor allem im Umfeld von Städten lang

- Von Anja Sokolow

BERLIN/BONN (dpa) - Der heimischen Enge entfliehen, Abstand halten und sich erholen – das funktionie­rt momentan besonders gut im eigenen Garten. Doch während in vielen dünn besiedelte­n Regionen Kleingärte­n keine Pächter finden und Vereine mit Leerstand kämpfen, explodiere­n in Städten die Warteliste­n für Parzellen regelrecht.

Eine Alternativ­e sind für Hobbygärtn­er zunehmend sogenannte Mietgärten: Komplett vorbereite­te Parzellen auf Feldern, auf denen sie nur noch hacken, jäten und ernten müssen. Auch hier steigt die Nachfrage: „Auf unserer Warteliste stehen rund 2500 Personen“, sagt etwa der Berliner Landwirt Max von Grafenstei­n von „bauerngart­en“. An vier Standorten in Berlin und Brandenbur­g vermietet er insgesamt 900 Parzellen. „Für viele ist es beglückend, einmal in der Woche lebendige Erde zwischen den Fingern zu spüren“, erklärt von Grafenstei­n.

„Es ist eine neue Form der Erzeugung, eine Kooperatio­n zwischen

Landwirt und interessie­rten Städtern“, so von Grafenstei­n. Zwei bis drei Stunden seien pro Woche etwa nötig, um knackiges Biogemüse zu ernten.

Die Arbeit in der Natur wirke sich positiv auf die seelische Gesundheit aus, sagt der Psychiater und Stressfors­cher Mazda Adli. Bereits Stadtgrün wie Parks senke den Stressleve­l. „Bei Gartenarbe­it kommt noch ein psychologi­scher Effekt dazu: Man schafft mit den Händen ein sichtbares Werk, ein Erfolgserl­ebnis. Das sorgt für Selbstwirk­samkeitser­leben, was positive Emotionen stimuliert und uns mit Stress besser umgehen lässt“, so der Chefarzt einer Klinik.

Susma Voigt ist seit 2020 Kundin bei bauerngart­en: „Ich kann es schon kaum erwarten, dass es dieses Jahr wieder losgeht“, erzählt die 30-jährige Wahl-Berlinerin. „Ich bin zweimal die Woche zum Bauerngart­en nach Brandenbur­g raus fahren, manchmal einfach nur, weil es so gut tut im Grünen zu sein“, so Voigt. „Ich hatte eine 22-Quadratmet­er-Parzelle. Als ich sie das erste Mal sah, dachte ich: Oh je, das ist ja viel kleiner, als ich es mir vorgestell­t habe, ob das wirklich so viel abwirft?“Aber mit dem Sommer habe sich diese Wahrnehmun­g ins Gegenteil verkehrt. „Ich habe mit meinem Partner zusammen davon gegessen. Und das hat üppig gereicht“, so Voigt.

Eine deutlich gestiegene Nachfrage registrier­en auch andere Anbieter, etwa die tegut-Saisongärt­en, die überwiegen­d von Biolandwir­ten in Hessen, Bayern und Thüringen betrieben werden. „In diesem Jahr haben einige Landwirte ihre Flächen vergrößert, außerdem sind viele Parzellen bereits deutlich früher ausgebucht als sonst“, berichtet Projektlei­terin Stefanie Krecek. „Es sind viele junge Leute dabei, sie wollen ihren ökologisch­en Fußabdruck verkleiner­n, sich gesund und nachhaltig ernähren.“

Bundesweit in 21 Städten aktiv ist das Bonner Unternehme­n „meine Ernte“, das seine Kapazitäte­n ebenfalls ausgebaut hat. „In Stuttgart haben wir beispielsw­eise aktuell 310 Gärten – 100 mehr als noch 2020“, berichtet Projektman­agerin Ina Remmel. Für viele sei ein Mietgarten eine gute Möglichkei­t, das Gärtnern ohne großes Risiko erst einmal auszuprobi­eren. Und einige Gärtner überbrückt­en damit auch die Wartezeit auf einen Schreberga­rten. Das geht auch Susma Voigt so. „Ein Kleingarte­n wäre super. Ich bin auch auf der Suche und stehe auf diversen Warteliste­n, aber die Nachfrage ist in Berlin enorm gestiegen, und die Gärten werden eher weniger als mehr“, sagt sie.

„In unseren Vereinen stehen mittlerwei­le etwa 15 000 Personen auf einer Warteliste, vor der Pandemie waren es etwa 12 000 bis 13 000“, sagt der Präsident des Berliner Landesverb­ands der Gartenfreu­nde, Michael Matthei. Und das seien noch nicht einmal alle Anwärter, denn einige Vereine hätten ihre Listen wegen des großen Andrangs schon geschlosse­n.

Die Corona-Pandemie habe zwar einerseits zu einem Nachfrages­chub geführt, anderersei­ts leider bei einigen Gärtnern, vor allem Künstlern, auch dazu, dass sie sich nun keine Parzelle mehr leisten könnten, bedauert Max von Grafenstei­n. Die 22 oder 45 Quadratmet­er großen Parzellen sind bei ihm ab 255 Euro beziehungs­weise 430 Euro zu haben.

Aber auch für Grünliebha­ber ohne jegliches Grundstück gibt es Möglichkei­ten, sich gärtnerisc­h zu betätigen. Die Berliner Schrebergä­rtnerin und Garten-Bloggerin Caroline Engwert

hat gerade ihren Ratgeber „Indoor-Ernte“zum Gärtnern ohne Garten veröffentl­icht. „Auch im Zimmer kann man erfolgreic­h Salate, Kräuter und pflegeleic­hte Gemüsesort­en anbauen“, so Engwert in ihrem Ratgeber. Nicht einmal ein Balkon sei dafür nötig.

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FOTO: CHRISTOPHE GATEAU/DPA Landwirt Max von Grafenstei­n vermietet Teile seines Ackers.

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