Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Sorge vor dem Einkaufstourismus
Landkreise mit niedrigen Inzidenzzahlen dürfen künftig stärker lockern – Biberacher Landrat äußert Kritik
STUTTGART - Open-Air-Konzerte, volle Fußballstadien und eng besetzte Bierzelte wird es in naher Zukunft nicht geben. Trotzdem blickte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Freitag positiv gestimmt in die Zukunft. „Wir holen uns ein großes Stück Normalität zurück. Und ein großes Plus an Lebensqualität“, sagte er im Landtag. Für die Öffnungspläne des Landes erntete er jedoch auch Kritik.
Die grün-schwarze Koalition hatte sich zuvor unter anderem darauf verständigt, dass in Kreisen, die stabil unter 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner in sieben Tagen liegen, vom kommenden Montag an der Einzelhandel wieder öffnen kann – allerdings mit einer Begrenzung von einer Kundin oder einem Kunden pro zehn Quadratmeter beziehungsweise 20 Quadratmeter je nach gesamter Verkaufsfläche. Möglich sind in diesen Kreisen auch die Öffnung von Museen, Galerien, Gedenkstätten, zoologischen und botanischen Gärten sowie auch kontaktfreier Sport in kleinen Gruppen mit bis zu maximal zehn Personen im Außenbereich, auch auf Außensportanlagen.
Bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von bis zu 100 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner gelten eingeschränkte Lockerungen für diese Bereiche. Shopping geht dann nur mit Termin („Click & Meet“) und auch in anderen Einrichtungen muss man einen Termin buchen. Auch kontaktfreier Sport mit maximal fünf Personen aus zwei Haushalten und im Freien für Gruppen mit bis zu 20 Kindern bis 14 Jahren sind möglich.
Zuvor war auch darüber diskutiert worden, für Öffnungen die landesweite Inzidenz als Maßstab zu nehmen, um Einkaufstourismus zu vermeiden. Doch das hätte bedeutet, dass es auf Sicht kaum eine größere Lockerung gegeben hätte. Denn die landesweite Inzidenz steigt seit etwa zwei Wochen stetig und liegt mittlerweile bei 56,3. Von den 44 Stadt- und Landkreisen liegen nur noch 16 unter einer Inzidenz von 50, darunter der Ostalbkreis.
„Uns ist bewusst, dass wir hier ein gewisses Risiko eingehen“, sagte Kretschmann dazu am Freitag in einer Sondersitzung des Landtags. „Wir wollen in den Regionen, in denen eine niedrigere Inzidenz herrscht, ein wenig mehr Normalität für die Menschen dort ermöglichen.“Sollte ein Einkaufstourismus zwischen verschiedenen Landkreisen entstehen, müsse schnell die Notbremse gezogen werden. Er setze dabei auf die Vernunft der Menschen. Die Kreise selbst sollten eine mögliche Öffnung noch mal prüfen und sich auch mit ihren Nachbarkreisen abstimmen.
Der baden-württembergische Landkreistag bezeichnete die geplanten Lockerungen in Stadt- und Landkreisen mit niedrigen Infektionszahlen als kompliziert. Noch deutlicher wurde Heiko Schmid, Landrat im Kreis Biberach: „Wie soll denn das alles funktionieren?“, fragte er. „Der Landkreis Biberach hat alleine vier direkte Nachbarlandkreise in BadenWürttemberg, darüber hinaus grenzen wir an Bayern. Die Vorstellung, dass die Landkreise untereinander Absprachen bezüglich der Öffnungen treffen, halte ich für sehr schwierig und auch den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr vermittelbar“, sagte er. „Und ich kann und will doch niemandem verbieten, Einkaufsangebote in anderen Landkreisen wahrzunehmen, nur weil das bei uns aufgrund einer höheren Inzidenz nicht möglich ist.“Es brauche stattdessen eine einfache und für alle nachvollziehbare Lösung.
FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke hielt Kretschmann derweil vor, er lockere nicht aus Überzeugung, sondern auf Druck der Bevölkerung. Es sei nicht vermittelbar, auf der einen Seite private Kontakte zu lockern, aber den Handel nur nach und nach zu öffnen, obwohl der kein Treiber der Pandemie sei.